von hw. Prälat Dr. Georg May Die Frage, wie Unschuldige leiden können und Gott dennoch der
gütige Gott bleibt, bewegt die Menschen seit alten Zeiten. Sie ist
sogar der Fels des Atheismus, wenn wir etwa an Georg Büchner oder
Alfred Camus denken. Dass Gott das Leid Schuldloser zulässt, das ist
der Fels des Atheismus; darauf
stützt er sich. Denn entweder kann Gott nicht helfen, weil er nicht
allmächtig ist und deshalb das Böse geschehen lassen muss, oder
er will nicht helfen, und dann ist er nicht gut. Wir wollen fragen, meine
lieben Freunde, ob diese Argumentation schlüssig ist. Das Wort „zulassen" ist zweideutig. Es kann zunächst bedeuten:
gestatten, erlauben. Dass Gott das Böse, das Unrecht nicht gestattet,
ist einsichtig, denn er ist die Güte selbst; er ist die Güte
in Person. Er kann nicht wollen, dass Böses geschieht. Das Wort „zulassen"
kann aber auch besagen: nicht hindern. Und in dem Sinne ist es hier gemeint.
Gott lässt das moralische Übel, die Schuld, die Sünde, das
Unrecht zu. Zulassung ist jener Akt der göttlichen Vorsehung, kraft
derer Gott die Freiheit des Menschen auch dann nicht hindert, wenn sie
sich zum Bösen wendet. Wir glauben an die Regierung der Welt durch Gott. Die Offenbarung
sagt uns, dass Gott die Welt regiert, d.h. er leitet alles in der Welt
zu seiner Verherrlichung und zu unserem Wohle. Er hat die Welt ins Dasein
gerufen, und er erhält sie im Dasein. Nichts könnte sich bewegen,
nichts könnte sich rühren, ohne dass Gott mitwirkt. In der Theologie
hören wir die Lehre vom „concursus generalis", von der allgemeinen
Mitwirkung Gottes. Das heißt: Gott wirkt bei allem, was die Geschöpfe
tun, mit. Die Erstursache, Gott, und die Zweitursache sind in einer von
uns unmöglich aufzuhellenden Weise miteinander verbunden, damit Handlungen
zustandekommen. Was sich bewegt, das bewegt sich durch den Antrieb, durch den innerlichen Antrieb, durch die innerliche Kraft Gottes.
Die Theologie versucht, diese Lehre einzufangen, indem sie sagt: Jawohl,
Gott wirkt alles, aber er wirkt es nicht allein. Das war der Irrtum Luthers,
dass er meinte, Gott wirkt auch alles allein. Nein, Gott wirkt, und die
Zweitursachen wirken mit. Gibt es nun eine Erklärung dafür, dass Gott auch mit dem
Bösen mitwirkt? Zunächst einmal muss man auf die Weltüberlegenheit,
auf die Transzendenz Gottes verweisen. Seine Gedanken und seine Pläne
sind allem menschlichen Wollen und Denken weit überlegen. Er regiert
die Welt nach seinen Plänen, nicht nach den Meinungen und Wünschen
der Menschen. Vor seinem Willen muss alles menschliche Begehren schweigen.
Man könnte sich bei dieser Antwort beruhigen, und manche haben es
getan. Gott ist der Herr, und er lässt sich seine Uhr nicht von Menschen
stellen. Menschliche Schwachheit und Bosheit kann die Pläne der göttlichen
Allmacht nicht umstoßen. Ein göttlicher Baumeister kann auch
mit fallenden Steinen bauen. Wegen der Undurchdringlichkeit, der Unbegreiflichkeit,
der Unfassbarkeit Gottes muss der Mensch still sein, sich unterwerfen,
sich ergeben. Mit Gott kann man nicht rechten, und er braucht sich vor
uns nicht zu rechtfertigen. Dennoch sucht der Mensch zu verstehen, möchte Einsicht gewinnen
in Gottes Planen und Handeln. Warum hindert Gott das moralische Übel
nicht? Ich will eine mehrfache Antwort versuchen. Erstens, er hindert es nicht, weil er die Gebote gegeben hat.
Er hat das sittliche Naturgesetz in das Herz des Menschen eingeschrieben,
er hat uns das Offenbarungsgesetz gegeben. Die Gebote sind dazu da, dass
der Mensch sich nach ihnen richtet, dass er das Böse meidet. Es gibt
Wegweiser, und Gott hat sie aufgestellt. Wenn der Mensch sich nach diesen
Wegweisern richtet, gibt es das moralische Übel nicht. Freilich, die
Menschen begehren auf gegen Gott und seine Gebote. Seit Jahrhunderten haben
sie alles getan, um Gottes Macht zu leugnen, seine Gebote zu verspotten,
seine Autorität zu untergraben. Das ganze 18. und 19. Jahrhundert
sind voll von Gottesleugnung, Gottverspottung, Gottverhöhnung. In
Nürnberg, meine lieben Freunde, steht das Denkmal von Ludwig Feuerbach,
und auf diesem Denkmal steht geschrieben - ein Spruch von Feuerbach -:
„Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde." Also nicht: Gott hat den Menschen
erschaffen, sondern der Mensch hat Gott erfunden. Gott ist eine Illusion,
eine Einbildung. Und wozu hat sich der Mensch diese Illusion geschaffen?
Die Antwort darauf gibt Karl Marx, der ja Feuerbach gut kannte, nämlich:
„Die Religion ist das Opium des Volkes, der Seufzer der bedrängten
Kreatur." Die Religion wurde vom Menschen geschaffen, damit er sich über
das Elend auf dieser Erde hinwegtrösten kann. Die Materialisten des
19. Jahrhunderts haben Gott verhöhnend beschrieben als ein „gasförmiges
Wirbeltier", und wir wissen, wie alles das geendet hat. Friedrich Nietzsche
verkündete den Tod Gottes: „Gott ist tot, wir haben ihn getötet.
Nie gab es ein größeres Ereignis." Die Gottesleugnung, die Gottverhöhnung, die Gottverspottung
ist abgesunken in das Volk. Die Menschen sind zunächst entkirchlicht,
dann entchristlicht und schließlich entgottet worden. Die Folgen
dieser Entwicklung sind von Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder
Karamasow" ausgesprochen worden. Da sagt Iwan, der älteste der drei
Brüder: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt." Auch Juden
umzubringen, eine ganze Rasse auszulöschen. Dahin führt die Missachtung
der Gebote Gottes. Warum lässt Gott das moralische Übel zu? Warum hindert
er es nicht? Er hindert es zweitens nicht, weil er den Menschen frei
geschaffen hat. Er will, dass der Mensch sich in Freiheit für
das sittlich Gute entscheidet und das sittlich Böse meidet. Die Freiheit
des Menschen ist Gott so viel wert, daß er ihren Missbrauch in Kauf
nahm. In Gottes Augen war es richtiger, aus Bösem
Gutes entstehen zu lassen, als das Böse überhaupt nicht zuzulassen.
Thomas von Aquin hat mit diesem Problem gerungen, und er schreibt in seiner
„Summa": „Gott lässt Leiden und Übel zu, um sich als Garanten
und Urheber der Freiheit des Menschen zu erweisen." Um sich als Garanten
und Urheber der Freiheit des Menschen zu erweisen. Ihm ist nicht zweifelhaft,
dass die Güte Gottes davon unberührt bleibt, denn Gott ermöglicht
zwar ontologisch und gnadenhaft das Handeln des Menschen, aber er bewirkt
nicht die Abkehr vom Guten. Nicht Gott also ist
an der Sünde schuld, sondern der Missbrauch des freien Willens.
Gott hat den Menschen als freies Wesen geschaffen, und deswegen hindert
er nicht die freien Handlungen, auch wenn sie in die Irre laufen. Der Mensch legt großen Wert auf die Freiheit, und er würde
sich sehr wundern oder sogar gegen Gott empören, wenn dieser seine
Freiheit in dem, was ihm Spaß macht, hindern würde. Ich habe noch
nie gehört, dass jemand Gott anklagt, weil er seine Lieblingsbeschäftigung,
also das Genießen oder das Faulenzen, nicht hindert. Das Reisen ist
den Menschen, sehr viel wert. Sie sind unterwegs mit dem Auto, mit dem
Flugzeug. Die Umweltverschmutzung durch die Abgase nimmt bedrohliche Ausmaße
an. Aber wehe dem, der sie am Reisen hindern würde. Gott hindert das
Reisen nicht. Was würden die Menschen sagen, wenn er es hindern würde?
Gott hindert nicht, dass jedes Jahr Hunderttausende, Millionen von Kindern
im Mutterleibe getötet werden. Die Männer und die Frauen wollen
es so: „Mein Bauch gehört mir!" Sie wollen die Freiheit haben, die
Leibesfrucht abzutreiben. Gott darf sie nicht daran hindern, und wütend
gehen sie gegen die Kirche los, die Gottes Gebot über der Leibesfrucht
verkündet. Gott hindert nicht, dass Menschen durch übermäßigen
Konsum von Nikotin oder Alkohol ihre Gesundheit untergraben. Die Menschen
wollen es so. Gott hindert nicht, dass Gewerkschaftsfunktionäre des
...konzerns auf Firmengeld Bordelle besuchen. Es macht ihnen Spaß,
und der Spaß soll ihnen nicht von Gott vergällt werden. Gott
lässt dem Menschen die Freiheit. Niemand klage Gott an, dass er
den Menschen die Freiheit lässt, und wenn wir ihn nicht anklagen dürfen,
dann muss man auch zugeben, dass er die Freiheit lässt, Böses
zu tun. Drittens muss man sagen: Gott hindert das
Böse nicht, weil er die Weisheit und Macht besitzt, auch aus dem Bösen
Gutes hervorgehen zu lassen. Schon im 1. Buch der Heiligen Schrift
wird uns von einem solchen Fall berichtet. Die Brüder des Josef verkauften
ihn nach Ägypten, und er stieg dort zum Vizekönig auf. Er hielt
seinen Brüdern dann vor, als er sie nach Ägypten hat kommen lassen:
„Ihr sännet Böses wider mich, aber Gott hat es zum Guten gewendet."
Die junge Kirche wurde nach der Steinigung des Stephanus in Jerusalem einer
grausamen Verfolgung unterworfen. Die Jünger flohen vor der Wut ihrer
Verfolger nach Samaria, andere kamen nach Phönizien, nach Antiochien,
nach Zypern. Die Frohe Botschaft wurde auf diese Weise überall hingetragen,
wohin die Jünger kamen. Die Verfolgung hatte
also in Gottes Plan offenbar auch den Sinn, das Evangelium zu allen Völkern
gelangen zu lassen. Die Verfolgung der Juden ist ein düsteres Kapitel unserer Geschichte.
Aber dieses Kapitel hat auch helle Seiten. Konrad Löw hat in seinem
Buche „Das Volk ist ein Trost" gezeigt, in wie vielen Fällen deutsche
Männer und Frauen sich der verfolgten Juden angenommen und ihnen Hilfe
geleistet haben. Dabei ist zu bedenken, dass nur ein Bruchteil dieser helfenden
Tätigkeit bekannt wurde, denn sie musste heimlich geschehen. Zahllose gute Taten sind niemals bekannt geworden und werden niemals
bekannt werden. Der Breslauer Jude Willi Kohn hat ein Tagebuch hinterlassen, das jetzt veröffentlicht wurde. In diesem Tagebuch
- der Titel heißt „Kein Recht, nirgends" - schreibt er, der Stern,
den die Juden tragen mussten zur Kennzeichnung, habe die entgegengesetzte
Wirkung ausgelöst, den die Regierung sich davon versprochen hat. Der
größere Teil der Bevölkerung distanzierte sich nicht von
den Juden, sondern zeigte ihnen durch Freundlichkeit, Höflichkeit
und Hilfsbereitschaft, dass er ihre Ausgrenzung nicht billigte. Da kam
es manchmal zu ergötzlichen Szenen. In der Straßenbahn durften
die Juden zwar mitfahren, aber sie durften sich nicht setzen; sie mussten
stehen. Aber ein Arbeiter räumte seinen Sitzplatz und sagte zu einer
alten Jüdin: „Komm, kleine Sternschnuppe, setze dich hierher." Ein
nazistischer Volksgenosse verwies es ihm. „Das ist doch eine Jüdin",
sagte er. Darauf gab der Mann zur Antwort: „Mein Hintern gehört mir;
mit dem kann ich machen, was ich will." Am Abend des 20. Juli 1944 ließt
Generaloberst Fromm die vier Hauptakteure des Putsches gegen Hitler erschießen,
zweifellos zu Unrecht und ohne ordentliches Verfahren. Die Schwester eines
der Hingerichteten, Rosemarie von Haeften, bemerkte dazu: „Ich habe von
Anfang an es als eine gütige Schickung Gottes gefunden, dass mein
Bruder Werner und Stauffenberg erschossen wurden und nicht den Henkern
in die Hände fielen." Also auch hier hatte Gott auf merkwürdige
Weise aus Bösem Gutes hervorgehen lassen; denn das, was ihnen nachher
geschehen wäre, wenn sie am Leben geblieben wären, war viel schlimmer
als der Tod. Ich kann Ihnen sogar ein persönliches Erlebnis berichten. Am
9. Februar 1945 drang die Rote Armee in meine Heimatstadt Liegnitz in Schlesien
ein. Die Großmutter ging wie immer um 6 Uhr zur heiligen Messe. Sie
wurde vor der Kirchentür durch einen Genickschuß getötet.
Der Pfarrer zog sie in die Kirche. Es war gut so, dass die Großmutter
so starb, denn was nachher von der Roten Armee angerichtet wurde, war viel
schlimmer als das, was ihr jetzt durch einen plötzlichen, aber vorbereiteten
Tod gewährt wurde. Nein, meine lieben Freunde, Gott hindert das moralische Übel
nicht, weil er fähig ist, daraus Gutes hervorgehen zu lassen. Er
hindert es viertens auch deswegen nicht, weil der Mensch durch ungerechtes
Leid erzogen, erprobt und bewährt wird. Der Schmerz ist nun einmal
der große Lehrer des Menschen. Unter seinem Hauch entfalten sich
die Seelen. Wer nicht gelitten hat, was weiß der? So mancher Mensch
ist durch das Böse, das er begangen oder erfahren hat, erschüttert
und bekehrt worden, zu Gott zurückgeführt worden. Die Kirche
spricht nicht umsonst von der „glücklichen Schuld", glücklich,
weil sie zum Umkehren des Menschen geführt hat. Das Leid ist die Feuerprobe
des Menschen. Sie ist auch die Feuerprobe der Religion. Gott prüft
die Echtheit unseres Glaubens, unserer Hoffnung, unserer Liebe. Und diese
Prüfung geschieht eben durch physische Leiden und moralische Übel.
Erst in der Not zeigt sich, was im Menschen steckt. Im Buche Tobias steht
ein Wort, das ich Sie bitte, oft und oft zu bedenken. Tobias hatte ja viele
Leiden erfahren, aber der Engel Raphael klärte ihn auf: „Weil
du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung dich bewähren."
Ein merkwürdiger Satz, für uns fast unverständlich. Weil
du angenehm warst vor Gott, musste die Versuchung dich bewähren. Sämtliche
Heiligen unserer Kirche haben Leiden, ungerechte Leiden auszustehen gehabt.
Je größer ein Heiliger, umso mehr Leiden hatte er. Es gibt kein
sichereres Zeichen für die Auserwählung, als wenn jemand bei
einem frommen Leben Leiden zu tragen hatte. Ohne Leiden kommt niemand zur
ewigen Glückseligkeit. Der Herr hat es uns ja erklärt: „Wer
sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert." Nun sagt Schmidt, der ehemalige Kanzler Schmidt, er verlasse sich
nicht auf Gott. Das besagt, wenn ich ihn recht verstehe: Gott ist unzuverlässig;
er hält nicht, was er verspricht. Ja aber meine lieben Freunde, was
hat er denn versprochen? Hat er uns denn ein angenehmes, geruhsames, friedliches
Leben versprochen? Wenn es den Bösen gut geht und den Guten schlecht,
und man sagt zu Gott: Ist das deine Gerechtigkeit?, dann gibt er zur Antwort:
Ist das dein Glaube? Habe ich dir das versprochen? Bist du dazu Christ
geworden, dass es dir gut geht auf Erden? Gott hindert das moralische Übel nicht, weil es fünftens
auf seine Weise zur Verherrlichung Gottes dient, indem es entweder seine
Barmherzigkeit offenbart im Verzeihen oder seine Gerechtigkeit im Strafen.
Alles Böse trägt seine Strafe in sich selbst, oder die Strafe
folgt dem Bösen auf dem Fuße. Ich weiß nicht, ob es stimmt,
wenn Schiller sagt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." Aber wir
wissen, dass in zahllosen Fällen das Böse in sich selbst seine
Strafe trägt oder dass die Strafe ihm folgt. „Du hast es befohlen,
o Gott, und so ist es, dass seine Strafe sich selbst ist jeder ungeordnete
Geist", sagt der heilige Augustinus. Du hast es befohlen, o Gott, und so
ist es, dass seine Strafe sich selbst ist jeder ungeordnete Geist. Man
übertritt das Naturgesetz nicht ungestraft. Man übertritt aber
auch das moralische Gesetz nicht ungestraft. „Gottes Wille wird
sich an dir erfüllen, auch wenn er von dir nicht erfüllt wird",
sagt wiederum der heilige Augustinus. Je gewaltiger die Steine sind, die
du gegen den Himmel wirfst, um so furchtbarer ist der Schlag, der dich
zerschmettern wird. Babylon endete bei einem Festmahle,
Rom ging unter in rauschenden Festlichkeiten. So sterben solche Reiche,
den Becher der Lust in der Hand und die Gotteslästerung auf den Lippen. Gott hindert das moralische Übel nicht, weil es sechstens
einen Ausgleich im Jenseits gibt. Das irdische
Dasein endet, aber das Beste im Menschen, das Heiligste im Menschen, die
Geistseele, stirbt nicht. Es gibt ein ewiges Leben. Die Geistseele ist
unsterblich. Und in diesem ewigen Leben gibt es einen Ausgleich.
Der Herr hat uns diesen Ausgleich in dem ergreifenden Gleichnis vom reichen
Prasser und vom armen Lazarus geschildert. Es gibt einen solchen Ausgleich.
Es gibt eine Vergeltung. Daran freilich glaubt der ehemalige Bundeskanzler Schmidt nicht.
Ich habe ihn selbst sagen hören, er meine, dass eine Spur von uns
bleibe. Eine Spur, also eine Art Fährte, ein Andenken, aber eben nicht
die unsterbliche Geistseele. Wer nicht an das ewige Leben und an die jenseitige
Vergeltung glaubt, der kann leicht dazu kommen, Gott wegen der Ungerechtigkeit
auf dieser Erde anzuklagen. Aber es gibt ein Gericht, und dieses Gericht
vergilt nach Verdienst den Guten Gutes, den Bösen Böses. Gott
hat nicht alle Tage Zahltag, aber er führt gute Rechnung, und da zahlt
er auf einmal. Meine lieben Freunde, ich bin mir bewusst, dass das Rätsel
der Zulassung des moralischen Übels weder von mir noch von einem anderen
Menschen vollauf gelöst werden kann. Es bleiben Rätsel, und es
müssen Rätsel bleiben, denn ohne Rätsel ist Gott nicht der
Unbegreifliche, der Unerforschliche. Beim Propheten Isaias
heißt es: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,
und eure Wege sind nicht meine Wege. So hoch der Himmel über der Erde
schwebt, so viel sind höher meine Wege als eure Wege und meine Gedanken
als eure Gedanken." Wir dürfen, meine lieben Freunde, nicht
mit Gott richten. Wir dürfen nicht gegen seine Zulassungen nörgeln.
Aber wir dürfen auf ihn bauen und dürfen auf ihn hoffen. Im Jahre 1918 saß in Riga in Lettland ein evangelisches Mädchen
im Gefängnis und wartete auf seine Hinrichtung, und sie ist auch dann
von den Bolschewisten erschossen worden. Aber dieses Mädchen hat uns
ein Andenken hinterlassen, das ganz ergreifend ist, nämlich ein wunderbares
Gebet: „ Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt
ihn wohl. Das macht die Seele still und friedenvoll. Ist doch umsonst,
dass ich mich sorg' und müh', dass ängstlich schlägt mein Herz,
ob spät, ob früh. Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt
die Zeit, dein Plan ist fertig stets und liegt bereit. Ich preise dich
für deine Liebesmacht. Ich preis' die Gnade, die mir Heil gebracht.
Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht, und du gebietest
ihm, kommst nie zu spät. Drum wart' ich still, dein Wort ist ohne
Trug, du weißt den Weg für mich, das ist genug." Amen. (Quelle: "Erneuerung
in Christus", Heft Nr. 7/8 -2017, S. 3-7 , Gaming)
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