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Zur Strukturfrage von Privatoffenbarungen
Dr. Gabriele Waste
1. Begriffsbestimmung und Fragestellungen
Die sogenannten Privatoffenbarungen werden in der Fundamentaltheologie
von der öffentlichen Offenbarung hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt
ihrer Verpflichtungsweite unterschieden: Man spricht von einer „öffentlichen
Offenbarung (revelatio publica), wenn sich die übernatürliche
Wortoffenbarung an alle Menschen mit einer sie heilsverpflichtenden Autorität
wendet. Eine nur für einzelne ergehende Offenbarung, die keinen allgemein
heilsverpflichtenden Charakter trägt, heißt private Offenbarung
(revelatio privata)."1 Gegen diese „durchschnittliche Theologie der Privatoffenbarungen"
wendet Rahner ein, dass sie zu positiv sei: Denn dadurch würden Privatoffenbarungen
nur als „Anwendungsfall der allgemeinen Theologie des Offenbarungsgeschehens",
als „Offenbarung minus" betrachtet. Damit sei aber kein innerer Unterschied
zwischen früheren Offenbarungen und denen der nachchristlichen Heilszeit
gegeben. Auch wäre es nach den allgemeinen Prinzipien der üblichen
Fundamentaltheologie nicht einzusehen, warum eine Privatoffenbarung, sofern
sie eine sachliche Mitteilung enthält, nicht von allen geglaubt werden
müsse, die davon Kenntnis erhalten und mit jener genügenden Sicherheit
(die für das Bestehen der „öffentlichen" Offenbarung gefordert
ist und genügt) erkennen, dass sie tatsächlich von Gott stammt.
Die Forderung jedoch, von Privatoffenbarungen hinsichtlich ihrer Gottgewirktheit
denselben Grad zu fordern wie von der öffentlichen Offenbarung, ist
für Rahner „unberechtigt, unlogisch und gefährlich".2
Allerdings lassen auch die Darlegungen Rahners manche Aspekte in
Bezug auf Privatoffenbarungen ungeklärt. Dazu gehört die grundlegende
Frage, ob sich die öffentliche Offenbarung von den sogenannten privaten
im strukturalen Bereich unterscheidet oder ob die letzteren nur eine inhaltliche
Ausweitung der ersteren sind. Im Hinblick auf die Strukturfrage müsste
nämlich untersucht werden, wodurch sich die alttestamentlichen Offenbarungen,
also vor Christus, ferner die Offenbarung Gottes in Christus selbst und
schließlich jene der nachapostolischen Zeit voneinander unterscheiden,
ob nur unter dem Aspekt ihrer zeitlichen Dimension in der Heilsgeschichte
oder auch unter anderen damit zusammenhängenden Gesichtspunkten. Rahner
beschränkt sich in seinen weiteren Ausführungen nämlich
größtenteils auf die zeitlichen Unterschiede. Ferner lehnt er
eine obligatorische Akzeptanz von Privatoffenbarungen mit dem Argument
ab, dass damit eine rationale Glaubensbegründung für die christliche
Offenbarung unmöglich gemacht würde.3
Mit dieser Ablehnung hat Rahner formal gesehen recht, zumal er an
dieser Stelle ganz im Sinne der Tradition spricht. Der Forderung nach einem
verpflichtenden Glauben an den Inhalt von Privatoffenbarungen steht in
jedem Fall die Glaubenswahrheit entgegen, dass „Christus der Höhepunkt
und Abschluss der öffentlichen Offenbarung Gottes ist, und (dass)
es zum mindesten theologisch sicher (ist), dass die authentische Promulgation
der öffentlichen Offenbarung mit dem letzten Apostel ihr Ende gefunden
hat".4 Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Begründungen, die Rahner
dagegen aufführt, adäquat und hinreichend sind.
Anhand dieser Prämissen lässt sich folgern, dass Rahner
den Entstehungsprozess bzw. die Wirkursache von Privatoffenbarungen im
Vergleich zur öffentlichen nicht differenziert genug betrachtet. Ihm
zufolge handelt es sich bei Privatoffenbarungen um einen „von Gott einem
Glied der Kirche inspirierte(n) Imperativ für das Handeln der Kirche
in einer bestimmten geschichtlichen Situation".5 Diese These unterscheidet
jedoch nicht klar zwischen Ursache und Zielsetzung von Privatoffenbarungen,
ob sich diese nur von einer geschichtlichen Notwendigkeit ableiten lassen,
d. h. gewissermaßen determiniert sind, oder ob sie sich dem freien
Gnadenwirken Gottes verdanken.
Auch das II. Vatikanum geht nicht deutlich über Rahner hinaus.
Die Privatoffenbarungen, verstanden als „besondere Gnaden" bzw. „Gnadengaben",
die der Heilige Geist unter den Gläubigen jeden Standes verteilt,
müssen, „ob sie nun von besonderer Leuchtkraft oder aber schlichter
und allgemeiner verbreitet sind, mit Dank und Trost angenommen werden,
da sie den Nöten der Kirche besonders angepasst und nützlich
sind".6 Die Konzilsväter haben an dieser Stelle zweifelsohne die Privatoffenbarungen
aufgewertet, ohne allerdings deren Ursprung zu reflektieren. Der Verweis
auf das Gnadenwirken des Heiligen Geistes in der Kirche allein ist nämlich
nicht ausreichend, sofern dieser in allen Epochen der Heilsgeschichte,
also auch im Alten Testament und während des irdischen Lebens Jesu,
am Werk ist. Die entscheidenden Strukturfragen im Hinblick auf Privatoffenbarungen,
wozu vor allem deren Wirkursache gehört, haben auch in die Konzilstexte
keinen Eingang gefunden.
Ausgehend von einer Klärung, ob sich Privatoffenbarungen, ausgehend
vom Aspekt ihrer zeitlichen Dimension, von der öffentlichen Offenbarung
im inhaltlichen, formalen und/oder im strukturalen Bereich unterscheiden,
wird im Folgenden untersucht, ob und wieweit der geläufige Begriff
der Offenbarung dafür ausreichend ist oder ob es neuer Kategorien
bedarf.
2. Der Zeitfaktor und das formale
Spektrum von Privatoffenbarungen
Über die möglichen Formen von Privatoffenbarungen im Rahmen
des überlieferten Glaubensgutes herrscht keine genügende theologische
Klarheit. Diese werden vielfach auf das Charisma der Prophetie eingeschränkt,
verstanden als „Wirklichkeitsdeutung in der Kraft des Geistes".7 Außerdem
soll die Prophetie „primär gegenwarts- und situationsbezogen" sein,8
was allerdings im Gegensatz zur Lehre der Kirchenväter und der traditionellen
Fundamentaltheologie steht. Dieses Charisma ist nämlich in erster
Linie zukunftsbezogen:
Die Prophetie ist demnach die sichere (nicht bloß konjekturale
oder zufällig erratene) Voraussage von kontingenten zukünftigen
Dingen. Sie könnten mit Gewissheit nur in übernatürlichem
Lichte erkannt werden. Gott allein kann nämlich die in der Gegenwart
noch völlig unbestimmten (indeterminierten) Willensentschlüsse
der mit Willensfreiheit begabten Ursachen erkennen.9
Thomas von Aquin wertet die so verstandene Prophetie als „Zeuge
für die Glaubensverkündigung": Es wird nämlich als Glaubensinhalt
verkündet, was zu einer bestimmten Zeit geschieht, z. B. die Geburt
Christi, sein Leiden und seine Auferstehung und Ähnliches; und damit
man nicht glaubt, derartige Dinge seien von den Predigern erfunden oder
zufällig geschehen, werden diese Ereignisse durch die Propheten lange
vorher verkündet.10
Die Umschreibung der Prophetie als „Wirklichkeitsdeutung" ist so
gesehen nur insofern richtig, als sie sich auf den wörtlichen Schriftsinn
bezieht. Es gibt aber auch auf dieser Ebene des Schriftsinnes in den Homilien
Gregors des Großen etliche Beispiele dafür, dass sich das prophetische
Charisma entsprechend den „drei Zeiten der Weissagung" sowohl auf „Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft" erstreckt:
Eine Weissagung über Künftiges ist: Siehe,
die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären (Jes 7,14). Ein
prophetisches Wort über Vergangenes: Im Anfang
schuf Gott Himmel und Erde (Gen 1,1). Ein prophetisches Wort über
Gegenwärtiges ist dort, wo der Apostel Paulus sagt: Wenn
aber alle weissagen, und es kommt ein Ungläubiger oder ein Unwissender
herein, so wird er von allen überführt, von allen beurteilt;
denn das Verborgene seines Herzens wird offenbar, und so wird er auf sein
Angesicht niederfallen und Gott anbeten und verkünden, dass Gott wahrhaft
in euch ist (1 Kor 14,24-25)."
Das prophetische Charisma lässt sich also nicht auf eine subjektiv
forcierte Wirklichkeitsdeutung im Sinne eines kommunikationstheoretischen
Offenbarungsmodells einschränken, bei der das ursächliche Wirken
des Heiligen Geistes in den Hintergrund tritt. Die entscheidende Schlussfolgerung
aus den Predigten Gregors des Großen besteht aber darin, dass die
Gabe der Prophetie sich keinesfalls mit Privatoffenbarungen deckt. Denn
die zitierten Fälle von Weissagungen gehören alle zur „öffentlichen"
Offenbarung, die in der Heiligen Schrift aufgezeichnet ist.
Im Anschluss an die Darlegungen dieses Kirchenvaters wird auch deutlich,
dass die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Offenbarung
nicht in der Art und Weise des Offenbarungsvorgangs liegen kann. Da nämlich
der Heilige Geist als göttliche Person unveränderlich ist und
in allen Phasen der Heilsgeschichte seine Gnadengaben auf die gleiche Weise
austeilt, kann auf der Vermittlungsebene und in Bezug auf die Glaubwürdigkeitskriterien
keinerlei Unterschied zwischen öffentlicher und privater Offenbarung
gegeben sein, etwa zwischen den von Gregor dem Großen zitierten Beispielen
und den Prophetien des hl. Johannes Bosco. Nur gehören die einen zu
den kanonischen Schriften des Neuen Testaments und die anderen in die nachapostolische
Zeit. Daher erscheint es sinnvoller, die Privatoffenbarungen in Abgrenzung
zur öffentlichen ihrer zeitlichen Dimension entsprechend als „nachapostolische
Offenbarungen" zu bezeichnen.
Aber auch das formale Spektrum der Privatoffenbarungen erschöpft
sich nicht in der Prophetie. Dazu gehören auch Visionen und Erscheinungen,
die als Begriffe „für ein und dasselbe Phänomen verwendet werden
können, aber mit dem Unterschied, dass eine Erscheinung das ist, was
sich unserer Betrachtung zeigt, aber ohne, dass wir wissen, was es ist;
bei einer Vision hingegen wird das Verständnis auch mit der äußeren
Erscheinung hinzugegeben".11 Auch die Termini Vision und Offenbarung beziehen
sich auf die gleiche Sache, nur mit dem Unterschied, dass die Offenbarung
die Vision voraussetzt und noch das Verständnis dessen, was gesehen
wird, beinhaltet.12 Zu den Privatoffenbarungen gehören auch Einsprechungen,
die sich „auf übernatürlich offenbarte Worte (beziehen), die
einer Person geoffenbart werden und die, ähnlich wie Visionen, äußerlich,
vorstellungsmäßig und intellektuell empfangen werden können."13
Die Rechtmäßigkeit sowohl von Einsprechungen und Visionen wurden
von Papst Benedikt XIV. anerkannt: „Als Formen prophetischer Offenbarung
sind sie in der Heiligen Schrift als authentische übernatürliche
Weisen, durch die Gott mit seinem Volk kommuniziert, erwiesen."14
Da also Prophetien, Visionen und Einsprechungen sowohl in der Heiligen
Schrift als auch in der nachapostolischen Zeit bezeugt sind, ist die Unterscheidung
der Offenbarung in öffentliche und private wie auch eine rein zeitliche
oder formale Abgrenzung für ihre Bestimmung unzureichend. Denn sofern
Offenbarung im christlichen Sinn, wie die genannten Phänomene veranschaulichen,
„die Enthüllung Gottes, die Selbsterschließung des Überwelthaften,
des Welttranszendenten" bedeutet,15 ist dieser Begriff ohne Einschränkung
auch auf Privatoffenbarungen anzuwenden. Da es sich folglich bei solchen
ebenso wie bei der öffentlichen Offenbarung um eine Mitteilung übernatürlichen
Geschehens und nicht um eine „Offenbarung minus" handelt, kann der Unterschied
zwischen diesen beiden Arten von Offenbarung auch nicht im Offenbaren als
Akt (revelatio activa) noch im Inhalt der Offenbarung, im Geoffenbarten
(revelatio passiva) liegen.16
Die Differenz liegt vielmehr ausschließlich im strukturalen
Bereich und muss bereits beim Begriff der christlichen Offenbarung als
solchem ansetzen, den es unter erweiterten bzw. neuen Kategorien festzulegen
gilt. Das herkömmliche Modell, das die Offenbarung auf die Mitteilung
Gottes im Wort einschränkt, wie auch die vom Zweiten Vatikanum vorgenommene
Unterscheidung von Wort- und Werkoffenbarung17 sind dazu nicht geeignet,
da die Struktur von Privatoffenbarungen gegenüber der öffentlichen
auf diese Weise nicht adäquat zu bestimmen ist. Sofern nämlich
jede Art von Offenbarung eine Mitteilung übernatürlichen, göttlichen
Lebens bedeutet und sich weder im Wort noch in der vom Konzil nicht präzise
definierten Kategorie von Werken erschöpft, sondern auch das Gnadenwirken
des Heiligen Geistes gerade in der nachapostolischen Zeit miteinbeziehen
muss, kann die Offenbarung dahingehend unterschieden werden, ob sie eine
Lehr- oder eine Gnadenvermittlung darstellt.
3. Der strukturale Unterschied
gegenüber der öffentlichen Offenbarung: Privatoffenbarungen als
Kategorie der Gnadenvermittlung
Eine Klassifizierung des christlichen Offenbarungsbegriffs unter
Berücksichtigung sowohl des Zeitfaktors als auch seiner Zielursache
in Lehr- und Gnadenvermittlung vermag die öffentliche Offenbarung
und die privaten unter den entscheidenden strukturalen Aspekten voneinander
abzugrenzen. Da jedoch zur Kategorie der Lehrvermittlung bzw. Lehroffenbarung
sowohl die Heilige Schrift als auch die Überlieferung gehören,
bedarf es eines weiteren Kriteriums, um den Offenbarungsbegriff auch auf
die Überlieferung auszuweiten, und zwar die Art der Offenbarungsvermittlung.
Anhand dessen kann eine Offenbarung dahingehend bestimmt werden, ob sie
unvermittelt oder vermittelt bzw. Offenbarungsgeschehen und/oder Offenbarungsvermittlung
ist. Demzufolge stehen sich die Heilige Schrift des
Alten und des Neuen Bundes, das kirchliche Lehramt und die Privatoffenbarungen
bzw. Lehre und Charisma als vergleichbare, aber auch als gleichwertige
Größen gegenüber. Aus der Zusammenschau dieser Kriterien
lässt sich a priori auch der Verbindlichkeitsgrad einer Offenbarung
auf inhaltlicher Ebene festlegen: Nur jenes Offenbarungsgut, das auf die
Instanz der Lehrvermittlung zurückgeht, ist auch uneingeschränkt
verbindlich.
3.1. Offenbarung als Kategorie
der Lehrvermittlung: Heilige Schrift und Tradition
Die Heilige Schrift und die Überlieferung enthalten die für
die gesamte Katholische Kirche verpflichtende Offenbarung, die durch das
Lehramt der Kirche unfehlbar vorgelegt wird, und zwar unabhängig davon,
ob sie in der Bildsprache des Alten Bundes, in den Gleichnissen Jesu oder
unter Zuhilfenahme philosophischer und theologischer Abstraktion vermittelt
ist.
3.1.1. Die Heilige Schrift: Offenbarungsgeschehen
und Offenbarungsvermittlung
Die Heiligen Schriften des Alten wie des Neuen Bundes wurden auf
Antrieb des Heiligen Geistes aufgezeichnet. Wenn auch die Urheberschaft
der in den Kanon aufgenommenen Schriften dem dreipersönlichen Gott
insgesamt zukommt, wird deren Inspiration dem Heiligen Geist zugeschrieben
bzw. appropriiert.18 Der Begriff der Inspiration ist zwar vom kirchlichen
Lehramt nicht eindeutig formuliert, lässt sich aber definieren als
unmittelbare, übernatürliche, charismatische Einwirkung Gottes
auf den Schriftsteller, die ihn anregt, das und nur das zu schreiben, was
als Gottes Wort aufgezeichnet werden soll, und ihm beisteht, es in passender
Weise in unfehlbarer Wahrheit auszudrücken.19
So bekennt das Konzil von Florenz im Decretum pro Jacobitis (1442)
zur Urheberschaft des Alten wie des Neuen Testamentes, dass „die Heiligen
beider Bünde unter Einhauchung desselben Heiligen Geistes gesprochen
(haben)".20 Die Inspiration besteht also nicht darin, dass eine Schrift
nachträglich vom Hl. Geist für irrtumslos erklärt oder von
der Kirche in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen wird. Denn nicht
die Aufnahme in den Kanon macht ein Buch zu einer inspirierten Schrift,
sondern das betreffende Buch wird in den Kanon aufgenommen, weil es inspiriert
ist.21
Ferner ist die Inspiration kein bloßer Antrieb von der Art,
wie religiöse Menschen sich gedrängt fühlen, außergewöhnliche
religiöse Erfahrungen in Wort und Schrift auszudrücken.22 Dennoch
sind Inspiration und Offenbarung keine deckungsgleichen Größen,
weil zwischen beiden notwendig ein zeitlicher Abstand liegt:
Die Kenntnisnahme der niederzuschreibenden Wahrheit fällt nicht
förmlich unter die Inspiration. Sie kann logisch oder zeitlich vor
dem Entschluss liegen, eine Wahrheit aufzuzeichnen. Sie kann auf natürlichem
Wege (Sinneswahrnehmung, eigenes Nachdenken, Zeugnis anderer) oder auf
übernatürlichem Weg durch unmittelbare göttliche Mitteilung
(Offenbarung) geschehen. Inspiration und Offenbarung sind daher nicht identisch.
Wenn die Heilige Schrift durch die Kirche als ein inspiriertes Werk des
Heiligen Geistes bezeugt ist, so heißt dies nicht, dass die Heilige
Schrift nur göttliche Offenbarungen enthält. Sie ist zwar auch
das durch die Kirche verbürgte Zeugnis der göttlichen Offenbarung.
Aber sie enthält auch Mitteilungen, die nicht auf eine unmittelbare
göttliche Einwirkung zurückgehen, deren Wahrheit jedoch durch
den inspirierenden Heiligen Geist verbürgt ist.23
Die zeitliche und logische Differenz zwischen der Kenntnisnahme
einer geoffenbarten Wahrheit und deren Aufzeichnung erklärt sich also
aus dem Wesen der Inspiration selbst: „Denn Schriftinspiration besagt ihrem
Begriff nach eine Einwirkung auf den menschlichen Autor zu dem Zweck, dass
dieser bestimmte schriftliche Aufzeichnungen macht; sie muss also der Abfassung
des inspirierten Buches ursächlich vorangehen."24 Jeder Autor ist
dementsprechend ein freies, vernunftbegabtes Werkzeug des Heiligen Geistes,
das Sinnzusammenhänge aufzeichnet, und nicht - der protestantischen
Auffassung von der Geringschätzung der menschlichen Natur entsprechend
- ein willenloses Medium.
Auf dieser Grundlage lässt sich also im Hinblick auf das in
der Heiligen Schrift geoffenbarte Wort Gottes das Offenbarungsgeschehen,
d. h. die unmittelbare Einwirkung durch den Heiligen Geist, von der Offenbarungsvermittlung
bzw. der Aufzeichnung der inspirierten Schrift und dadurch in den Kanon
aufgenommenen Schrift unterscheiden. Der zeitliche Abstand zwischen Offenbarungsgeschehen
und -Vermittlung kann verschieden groß sein, wie gerade am Beispiel
des hl. Evangelisten Johannes ersichtlich: Während er in dem nach
ihm benannten Evangelium in späteren Jahren seine Erinnerungen an
Jesus Christus und sein Heilswirken aufzeichnete, empfing er in Patmos
unmittelbare übernatürliche Offenbarungen durch den Heiligen
Geist für die Abfassung der Apokalypse. In beiden Fällen handelt
es sich jedoch um inspirierte und in den Kanon aufgenommene Schriften,
also unabhängig davon, ob der Autor nur Hagiograph oder auch selbst
Seher ist. Damit aber die Autorität der Schrift verbürgt ist,
bedarf es einer weiteren Instanz, die sowohl für den Kanon als auch
für die Inspiration Zeugnis ablegt, nämlich der Überlieferung.
3.1.2. Die Überlieferung:
nachapostolische Offenbarungsvermittlung
Da die Überlieferung göttlichen Ursprungs ist, gehört
sie ebenso zur Offenbarung bzw. zur Offenbarungsvermittlung wie die Heilige
Schrift. Denn „was zur religiösen Lehre gehört und nachweislich
von den Aposteln überliefert ist, bildet sicher einen Bestandteil
der göttlichen Offenbarung".25 Dieser Begriff ist in einem zweifachen
Sinn zu verstehen, den es zur Vermeidung von Missverständnissen klar
auseinanderzuhalten gilt:
a) Die Überlieferung im weiteren Sinn ist die „ganze Fülle
der Offenbarung, welche Gott im Alten Bunde den Menschen gewährt hat
und in den Schriften des Alten Testamentes aufzeichnen ließ, die
Christus weitergeführt und vollendet, den Aposteln und durch sie der
Kirche anvertraut hat, und durch den Heiligen Geist teilweise in den Schriften
des Neuen Testamentes aufschreiben ließ. Zu dieser so verstandenen
umfassenden Heiligen Überlieferung gehört auch die Heilige Schrift."
b) Unter Überlieferung im engeren Sinn versteht man „die in
der Heiligen Schrift nicht enthaltenen, aber von Christus und den Aposteln
verkündeten und der Kirche anvertrauten und in ihr von Mund zu Mund
weitergegebenen göttlichen Offenbarungen. Der unter a) angegebene
Begriff der Überlieferung schließt den engeren in sich. Wenn
in der Väterzeit auch der umfassendere Überlieferungsbegriff
überwog, so hat dennoch der engere nicht gefehlt."26
Diese Überlieferung im engeren Sinne ist eine selbständige,
der Hl. Schrift ebenbürtige Quelle des Glaubens, was auch vom Konzil
von Trient gegenüber dem diesbezüglichen protestantischen
Irrtum, d. h. der ausschließlichen Berufung auf die Schrift, gelehrt
wird.27 Die Legitimität der Tradition gründet im Charisma der
Wahrheit, welches den Bischöfen in der apostolischen Nachfolge mitgeteilt
worden ist, in der Mitteilung durch Christus, in der Verheißung und
Sendung des Heiligen Geistes, der alle Wahrheit lehrt.28
Daher kommt ihr als nachapostolischer Instanz der Offenbarungvermittlung
die Rolle des Hüters zu, aber auch des Lehrers. Die erstere ist gewissermaßen
eine Garantiefunktion: Sie besteht in der „Weitergabe der geoffenbarten
Lehre, die sozusagen von den Aposteln her von Hand zu Hand weitergereicht
wird", wobei sie „immer in Kontinuität zur Verkündigung jener
steht, die als erste und unmittelbare Verkünder des geoffenbarten
Wortes aufgetreten sind".29
Letztere Rolle erklärt sich aus der Tatsache, dass es einen
Unterschied gibt zwischen den Wahrheiten, die in der Kirche ganz offen
verkündet werden, und anderen Wahrheiten, die noch anhand der Heiligen
Schrift zu untersuchen und durch intensive Forschungen zu ergründen
sind. Darum war die geoffenbarte Lehre jederzeit bei gewissen Punkten,
die einstweilen nur verborgen im Glaubensgut enthalten waren, empfänglich
für genauere Bestimmungen. Um in solchen Punkten eine Einmütigkeit
zu erzielen und allfällige Kontroversen zu beenden, musste das Lehramt
einschreiten.30 Diese Richterfunktion des Lehramtes als vermittelnde und
dadurch bindende Instanz für die Authentizität der Lehre erstreckt
sich neben theologischen Kontroversen aber auch auf den Bereich des nachapostolischen
Offenbarungsgeschehens bzw. auf die Privatoffenbarungen.
3. 2. Offenbarung als Kategorie
der Gnadenvermittlung: Privatoffenbarungen als nachapostolisches, begrifflich
nicht mitteilbares Offenbarungsgeschehen
Zu den unterscheidenden Merkmalen der privaten Offenbarungen gegenüber
der öffentlichen gehört in erster Linie der Zeitfaktor, und zwar
unter soteriologischem Aspekt: Private Offenbarungen sind im Alten Testament
nicht denkbar, da sie das abgeschlossene Erlösungswerk Jesu Christi
und die Sendung des Heiligen Geistes am Pfingstfest voraussetzen. Daraus
erklärt sich auch ihr zutiefst ekklesiologischer Charakter: Gnadenmitteilungen
dieser besonderen Art kann es nur in der Kirche geben. Durch sie bezeugt
der Heilige Geist die Kirche als die eine wahre Braut Christi.
Die Privatoffenbarungen fallen aber ausschließlich
in die Kategorie des Offenbarungsgeschehens, und zwar des nachapostolischen,
und stellen daher keine Lehrvermittlung dar. Denn die Lehroffenbarung ist
durch die Heilige Schrift abgeschlossen und durch die Tradition beständig
aktualisiert, weshalb es keiner neuen heilsverbindlichen Lehrmitteilungen
mehr bedarf. Insofern unterscheiden sie sich auch auf inhaltlicher Ebene
von den Visionen und sonstigen Mitteilungen der Propheten und Seher des
Alten Bundes, die sowohl zum Offenbarungsgeschehen als auch zur Offenbarungsvermittlung
gehören. Diese dienten der Vorbereitung auf die Selbstoffenbarung
Gottes in Jesus Christus und sind in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen,
während die Privatoffenbarungen das Zeugnis des Heiligen Geistes für
diese Offenbarung darstellen. Folglich können Privatoffenbarungen
auch nicht glaubensbegründend sein, sie sind vielmehr glaubensbezeugend.
Ihr Verständnis setzt bereits die Annahme der geoffenbarten und durch
die Kirche vorgelegten Glaubenswahrheiten voraus.
Privatoffenbarungen gehören vielmehr dem Bereich der Gnadenvermittlung
durch den Heiligen Geist an und sind so gesehen der Offenbarungsvermittlung
durch das gesprochene und geschriebene Wort gleichwertig, als besondere
Zeichen, womit der Heilige Geist sein immerwährendes Wirken in der
Kirche als der Braut Christi bekundet. Sie sind die notwendige Instanz
der Individualität bzw. des individuellen Offenbarungsgeschehens gegenüber
dem allgemein verbindlichen Charakter der Offenbarungsvermittlung. Denn
das Gnadenwirken des Heiligen Geistes ist immer individuell und personbezogen,
auch wenn die mitgeteilten Gaben für die ganze Kirche gegeben sind
(vgl. Apg 2,3: „Und es erschienen ihnen zerteilte Zungen, wie von Feuer,
und als sich je eine auf jeden einzelnen von ihnen niederließ, wurden
alle vom Heiligen Geist erfüllt..."). Das Lehrgut der Kirche für
sich allein kann schließlich keine Gnadengaben vermitteln, so wie
umgekehrt die Privatoffenbarungen keine Lehrinstanz darstellen. Daher muss
es beispielsweise eine allgemein verbindliche kirchliche Lehre über
die Engel geben, während jede Form von Spiritualität bzw. Verehrung
der hl. Engel individuell geprägt sein muss.
Ihrem Inhalt nach sind also Privatoffenbarungen infolge ihres individuellen
Charakters begrifflich nicht mitteilbar, d. h. nicht aus den Begriffen
der öffentlichen Offenbarung abzuleiten, sondern ausschließlich
aus dem Wirken des Heiligen Geistes. So lässt sich etwa die Herz-Jesu-Verehrung,
die auf die Visionen der hl. Margaretha Maria Alacoque zurückgeht,
nicht eins zu eins auf die Heilige Schrift zurückführen. Das
Lehramt, dem das Urteil über die Echtheit und den geordneten Gebrauch
solcher Gnadengaben und Mitteilungen zukommt,32 kann lediglich feststellen,
dass diese nicht in Widerspruch zu Schrift und Tradition stehen. Seine
Rolle beschränkt sich also auf die der negativen Norm, zumal es auch
praktisch unmöglich wäre, alle Privatoffenbarungen ins depositum
fidei zu integrieren. Nach entsprechendem Entscheid der kirchlichen Instanzen
kann dann eine Privatoffenbarung geglaubt werden, jedoch anders als die
allgemeine Lehre der Kirche. In diesem Fall bedeutet Glauben nicht, einem
Lehrsatz zuzustimmen, sondern einen Gnadenimpuls aufzugreifen. Formal gesehen
ist jedoch der Glaube an die Möglichkeit von Privatoffenbarungen für
jeden Katholiken obligatorisch. Denn wer diese prinzipiell ablehnt, leugnet
auch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Kirche.
Als Kategorie der Gnadenvermittlung kommt den Privatoffenbarungen
jedoch eine weitere, kaum beachtete Bedeutung zu. Diese außerordentlichen
Gnadengaben sind ein klares Zeugnis dafür, dass die Gnadenvermittlung
begrifflich nicht fassbar ist und unmittelbar vom Heiligen Geist ausgeht.
Dadurch sind sie ein Bollwerk gegen alle protestantisch-gnostischen und
auch modernistischen Denkweisen, welche die übernatürliche Erkenntnis
und die Mitteilung von Gnaden in den menschlichen Geist hinein verlagern.
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1. Adolf Kolping, Fundamentaltheologie. Band I: Theorie
der Glaubwürdigkeitserkenntnis der Offenbarung. Münster 1968,
137. (Herv. orig.)
2. Vgl. Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen. Freiburg
21958, 23. (Herv. orig.)
3. Vgl. ebd., 24.
4. Vgl. Kolping (wie Anm. 1), 137.
5. Ebd., 28.
6. Lumen Gentium, 12.
7. LThK 3VHI (Sonderausgabe 2006), Sp. 604.
8. Ebd., Sp. 634.
9. Kolping (wie Anm. 1), 340. (Herv. kursiv orig., Herv.
fett G.W.)
10. S. c. G. III, 154.
11. Gregor der Große, Homilien zu Ezechiel. Erstmals ins
Deutsche übertragen und eingeleitet von Georg Bürke ST.
Einsiedeln 1983, 36 (1. Homilie 1: Die drei Zeiten der Weissagung).
(Herv. kursiv orig., Herv. fett G.W.)
12. Papst Benedikt XIV., Heroic Virtue, Vol. III, 284 (der Papst zitiert
hier die beiden Kardinals-Theologen De Laurea und Bona). Zitiert nach:
Mark Miravalle, Privatoffenbarung im Licht der Kirche.
Übersetzt aus dem Englischen von
Gerda Mathews. Wilhering 2013, 33f.
13. Heroic Virtue, Vol. III, 368. Zitiert nach: ebd., 34.
14. Poulan, Graces of Inferior Prayer, 299. Zitiert nach: ebd., 43.
15. Heroic Virtue, Vol. III, 284-286. Zitiert nach: Ebd., 43.
16. Kolping (wie Anm. 1), 134.
17. Zur Unterscheidung zwischen relevatio activa und passiva vgl. ebd.
18. DeiVerbum, 2.
19. Vgl. Michael Schmaus, Katholische Dogmatik. Band I. München
51953, 85.
20. Ebd., 87.
21. DH 1334.
22. Vgl. Diekamp-Jüssen, Katholische Dogmatik. Bearbeitet von
Ramon de Luca. Wil 2013, 46.
23. Vgl. ebd.
24. Schmaus (wie Anm. 19), 88. (Herv. G. W.)
25 Diekamp-Jüssen (wie Anm. 22), 46. (Herv. G.W.)
26. Johann Baptist Franzelin, Traktat über die göttliche
Tradition. Eingeleitet und übersetzt von Claudia & Peter Barthold.
Fohren-Linden 2015, 14. - Johann Baptist Franzelin SJ (1816-1886) wirkte
als
Dogmatikprofessor und päpstlicher
Theologe auf dem Ersten Vatikanum. 1876 wurde er zum Kardinal ernannt.
Dieser Traktat ist sein bis heute bekanntestes Werk und wird als Summe
der neuzeitlichen
Traditionstheologie gewertet.
27. Schmaus (wie Anm. 19), 105.
28. DH 1501.
29. Louis Billot, Tradition und Modernismus. Über die Unveränderlichkeit
der Tradition gegen die neue Lehre des Evolutionismus. (Lateinisches Original:
De immutabilitate traditionis contra modernam
haeresim Evolutionismi, 1929). Eingeleitet
und übersetzt von Claudia und Peter Barthold. Fohren-Linden 2014,
84. (Herv. G.W.)
30. Ebd., 89.
31. Vgl. ebd., 93.
32. Vgl. Lumen Gentium 12..
(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 1 - 2000, S. 5-7, A-6094 Axams)
Beten
Sie den "Rosenkranz zur Göttlichen Barmherzigkeit"!