Am 11. Februar 1858, dem Donnerstag vor Karneval, nahmen die weltlichen
Lustbarkeiten, welche nach uraltem Brauche den Entbehrungen der Fastenzeit
vorangehen, ihren Anfang. Die Diözese Tarbes feierte nach ihrem Offizium
an diesem Tage das Gedächtnis der Patronin Frankreichs, der berühmten
heiligen Hirtin Genovefa. Das Wetter war kalt und etwas trübe. Es
herrschte eine vollständige Ruhe in der Atmosphäre, und von Zeit
zu Zeit fielen einzelne Regentropfen herab. Schon hatte es auf dem Kirchenturm
von Lourdes 11 Uhr geschlagen, und fast in allen Häusern traf man
Anstalten zu fröhlichen Zusammenkünften und festlichen Mahlzeiten,
während es einer armen Familie, welche in einem elenden Hause der
Straße des Petits-Fosses zur Miete wohnte, sogar an Holz fehlte,
ihr spärliches Mittagsmahl zu bereiten. Der Vater, Franz Soubirous,
noch im besten Mannesalter, war von Beruf Müller und hatte einige
Zeit hindurch eine kleine Mühle in Pacht gehabt. Doch der arme Mann
sah sich genötigt, auf das kleine Pachtgut zu verzichten, wo seine
Arbeit, weit entfernt ihm zu Wohlstand zu verhelfen, vielmehr dazu beitrug,
ihn und seine Familie ins tiefste Elend zu stürzen. In Erwartung besserer
Tage arbeitete er nun, nicht in seinem eigenen Besitztum; denn er hatte
nichts auf der Welt, nicht einmal einen kleinen Garten, den er sein eigen
nennen konnte, sondern bei verschiedenen Nachbarn, welche ihn von Zeit
zu Zeit als Tagelöhner verwendeten. Verheiratet war er mit Louise
Casterot, die als gute Christin es wohl verstand, in den Tagen der Trübsal
seinen Mut aufrecht zu erhalten. Sie hatten vier Kinder: zwei Mädchen,
von denen Bernadette, die älteste, ungefähr vierzehn Jahre zählte,
und zwei jüngere Knaben, von welchen der kleinste kaum vier Jahre
alt war.
Das war also die arme Familie, welche am besagten Donnerstag um
11 Uhr noch kein Holz hatte, sich ein einfaches Mittagessen bereiten zu
können. „Geh an das Ufer des Gave oder in den Gemeindewald", sagte
die Mutter zu Marie, ihrer zweiten Tochter, „um etwas Holz zu sammeln!"
„Erlaube mir, mit ihr zu gehen!" sagte Bernadette, die gesundheitlich schwächlichere
der beiden. „Nein", erwiderte Louise Soubirous, „Du hustest, das kalte
Wasser würde dir nur schaden". Inzwischen war ein junges Mädchen
aus der Nachbarschaft, Jeanette Abadie, die ungefähr fünfzehn
Jahre zählte, eingetreten und schickte sich gleichfalls an, auf die
Holzsuche zu gehen. Alle zusammen legten nun Fürbitte für die
Kleine ein, und die Mutter gab endlich nach. Die Kinder verließen
die Stadt und erreichten, indem sie die Brücke überschritten,
das linke Ufer des Gave. Die Mädchen kamen bald ans Ende der Insel
und standen nun der dreifachen Öffnung gegenüber, welche die
Grotte von Massabielle den Blicken des Beschauers darbot. Nur der Mühlbach,
der gewöhnlich sehr stark war und den Fuß des Felsens berührte,
trennte sie davon. An dem einsamen Orte lagen eine Menge dürrer Zweige.
Entzückt über einen solchen Fund zogen Jeanette und Marie eiligst
ihre Holzschuhe aus und durchschritten den Bach. „Das Wasser ist sehr kalt",
riefen sie, indem sie, am anderen Ufer angelangt, ihre Holzschuhe wieder
anzogen. Bernadette, weniger flink, stand noch diesseits des Bächleins.
Eben im Begriffe, ihren ersten Strumpf auszuziehen, kam es Bernadette vor,
als vernehme sie von der Wiese her das Geräusch eines heftigen Windstoßes.
Sie glaubte, es habe sich plötzlich ein Sturm erhoben, und wandte
sich unwillkürlich um. Aber zu ihrem größten Erstaunen
waren die Pappeln, welche den Gave entlang standen, ganz ruhig; nicht der
leiseste Luftzug spielte in ihren friedlichen Zweigen. „Ich muss mich geirrt
haben", sagte sie zu sich selbst, indem sie dem Strumpf vollends ausziehen
wollte. „Aber was kann es denn gewesen sein?" Im gleichen Augenblick ließ
sich ein zweites ungestümes Grollen des unerklärlichen Windes
hören. Bernadette richtet den Kopf in die Höhe. Aber indem sie
aufschaute, stieß oder wollte sie vielmehr einen Schrei ausstoßen,
der jedoch in ihrer Kehle erstickte. Alle ihre Glieder bebten; sprachlos,
geblendet, zermalmt, möchte ich sagen, durch das, was sie vor sich
sah, brach sie zusammen und sank auf ihre Knie nieder.
Ein wahrhaft unerhörtes Schauspiel stellte sich ihren Augen
dar. Der Bericht des Kindes setzt uns in den Stand, mit sicherer Hand sowohl
die einzelnen Züge wie das überraschende Gesamtbild des erhabenen
Wesens zu zeichnen, welches in diesem Augenblick vor der entsetzten und
doch so glücklichen Bernadette stand. Oberhalb der Grotte, vor welcher
Marie und Jeanette, zur Erde niedergebückt, eifrig das dürre
Holz sammelten, stand, von himmlischer Klarheit umflossen, eine Frau von
unvergleichlicher Schönheit.
Hören wir, was Bernadette dazu sagte: „In meiner Angst nehme ich meinen Rosenkranz, den ich immer bei mir trage. Ich will das Kreuzzeichen machen, aber ich spüre, dass meine Hand gelähmt ist, ich kann sie nicht zur Stirn heben. Dann nimmt auch die Dame den Rosenkranz und macht das Kreuzzeichen. Da merke ich, wie sich mein Arm wieder bewegen lässt, und ich kann wie sie und gleichzeitig mit ihr das Kreuz schlagen". Zusammen mit der Muttergottes betete ich den Rosenkranz. Aber sie sagt ausdrücklich, die Muttergottes bewegte die Lippen nicht. Sie betet nicht das Ave-Maria. Aber sie betet. Sie betet ein Gebet, das sie allein kennt in ihrer tiefen Gottverbundenheit, das Gebet, das alle Geheimnisse des Rosenkranzes Gott darbietet im wunderbaren Lob, Dank und Bitte.
Lesen wir nun, wie die hl. Bernadette die Muttergottes sieht.
Der unbeschreibliche Strahlenkranz, welcher sie umgab, blendete
immens und verletzte die Augen nicht, wie der Glanz der Sonne; ganz im
Gegenteil, hell wie eine Feuersäule und zugleich wohltuend wie tiefer
Schatten, zog er unwillkürlich den Blick an, der sich gleichsam darin
zu baden und mit Entzücken zu ruhen schien. Es war wie der Morgenstern,
ein Licht in erquickender Frische. In der Erscheinung selbst bemerkte man
nichts Unbestimmtes oder Nebelhaftes; sie hatte durchaus nicht die unsicheren
Umrisse eines phantastischen Traumbildes. Lebendige Wirklichkeit, ein menschlicher
Körper, für das Auge greifbar, wie unser Fleisch, unterschied
sie sich von einer gewöhnlichen Frauengestalt nur durch den Strahlenkranz
und die himmlische Schönheit.
Sie war von mittlerer Größe, jung und voll Anmut, als
ob sie kaum zwanzig Jahre zähle, und dieser sonst so flüchtigen
Jugendfrische, welche über allen Wechsel erhaben schien, war der Stempel
ewiger Dauer aufgedrückt. Noch mehr, es vereinigten sich in ihren
göttlichen Zügen gewissermaßen die einzelnen Schönheiten
aller vier Jahreszeiten des menschlichen Lebens, ohne jedoch deren Harmonie
zu stören. Die unschuldige Offenheit des Kindes, die makellose Reinheit
der Jungfrau, der milde Ernst des reiferen Alters und eine Weisheit, die
alles Wissen verflossener Jahrhunderte überragt, waren, ohne sich
gegenseitig zu verdunkeln, in diesem wunderbar schönen Frauenantlitz
verschmolzen. Die Regelmäßigkeit und ideale Reinheit ihrer Züge
entzieht sich jeder Beschreibung. Ich kann nur sagen, dass die ovale Form
ihres Gesichtes von unendlicher Anmut, dass ihre Augen blau und von einer
Milde waren, vor der das Herz eines jeden, der hineingeschaut, hätte
zerfließen müssen. Die Lippen atmeten Güte und göttliches
Wohlwollen; auf der Stirne thronte die höchste Weisheit, das heißt
die Kenntnis aller Dinge, vereint mit einer Tugend ohne Grenzen. Die Kleider,
aus unbekannten Stoffen und ohne Zweifel in der geheimnisvollen Werkstätte
gewebt, wo die Lilie der Täler sich kleidet, waren weiß, wie
der fleckenlose Schnee der Berge, und in ihrer Einfachheit herrlicher als
das Gewand Salomons in seiner Pracht. Das lange, schleppende Kleid der
hehren Frau, das in züchtigen Falten herniederfloss, ließ ihre
jungfräulich zarten Füße, die auf dem Felsen ruhten und
die Zweige des Rosenstrauches leicht berührten, unbedeckt, und auf
jedem derselben erschloss sich die mystische goldfarbige Rose. Um ihre
Hüften schlang sich ein himmelblauer Gürtel, der mit seinen langen
Enden fast ihre Fußspitzen berührte. Von ihrem Haupte wallte
ein faltenreicher, weißer Schleier hernieder, der die Schultern und
den oberen Teil der Arme umhüllte und hinten fast bis auf den Saum
des Kleides herabfiel...
Diese wunderbare Erscheinung betrachtete Bernadette, die, wie wir
sagten, in ihrer Bestürzung zusammengesunken war, und ohne sich selbst
Rechenschaft darüber geben zu können, auf ihren Knien lag. „Ich
habe etwas Weißgekleidetes gesehen", sagte sie ihren Begleiterinnen
und beschrieb ihnen darauf die wunderbare Erscheinung. Das war also die
erste Erscheinung der Muttergottes am besagten 11. Februar, dem Oktavtag
von Maria Lichtmeß.
Bild: Die Lourdesquelle