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Nachfolge CHRISTI
Thomas von Kempen
Erstes Kapitel
Christus spricht zur Seele
„Ich will hören, was Gott, der Herr,
in mir spricht" (Ps 84,9).
Selig die Seele, die den Herrn in sich reden hört und aus seinem
Munde ein Wort des Trostes empfängt!
Selig die Ohren, die den leisen Hauch der göttlichen Eingebung
aufnehmen, auf die Einflüsterungen dieser Welt aber nicht achten!
Selig die Ohren, die nicht auf eine Stimme von draußen, sondern
nach innen lauschen, wo die Wahrheit lehrt!
Selig die Augen, die dem Äußerlichen verschlossen, dem
Inneren aber aufgetan sind!
Selig, die in das Innere eindringen und sich durch tägliche
Übungen immer mehr zu bereiten suchen, die göttlichen Geheimnisse
zu erfassen!
Selig, die sich nur mit Gott zu beschäftigen wünschen
und sich von allen Hindernissen der Welt freimachen!
Merke dir dies, meine Seele, und verschließe die Pforten deiner
Sinnlichkeit, damit du zu hören vermagst, was der Herr, dein Gott,
in dir redet. So spricht dein Geliebter: „Dein Heil
bin ich" (Ps 34,3), dein Friede und dein Leben.
Halte dich an mich, und du wirst Frieden finden. Lass alles Vergängliche
fahren; suche das Ewige.
Was ist alles Zeitliche anders als Verführung?
Und was helfen alle Geschöpfe, wenn du vom Schöpfer verlassen
bist.
Entsage also allem, werde deinem Schöpfer ergeben und treu,
dann wirst du die wahre Glückseligkeit erlangen.
Zweites Kapitel
Die Stimme Gottes im Herzen
„Rede, Herr, denn Dein Knecht hört" (1
Sam 3,10). „Dein Knecht bin ich; gib mir Einsicht, dass ich Deine Zeugnisse
verstehe" (Ps 118,125).
„Neige mein Herz zu den Worten Deines Mundes"
(Ps 77,1). „Wie Tau fließe Deine Rede" (Mos 32,2).
Einst sprachen die Kinder Israels zu Moses: „Rede
du zu uns, und wir werden dein Wort hören; nicht der Herr rede zu
uns, damit wir nicht etwa sterben" (Mos 20,19). Nicht
so, Herr, nicht so will ich beten; ich flehe lieber mit dem Propheten
Samuel demütig und voll Sehnsucht: „Rede,
Herr, denn Dein Knecht hört." Nicht Moses rede zu mir
oder einer von den Propheten; sondern Du rede, Herr, mein Gott, Geist und
Licht aller Propheten, weil Du allein ohne sie mich vollkommen unterweisen
kannst, sie aber ohne Dich nichts vermögen.
Die Menschen können zwar klingende Worte sprechen; aber den
Geist geben sie nicht. Was sie sprechen, hört sich schön an;
aber wenn Du schweigst, entzünden sie nicht das Herz.
Sie überliefern Buchstaben; aber Du deutest den Sinn. Sie künden
Geheimnisse; Du aber erschließest ihre Deutung. Sie verkünden
Gebote; Du aber hilfst sie vollbringen.
Sie zeigen den Weg; Du aber gibst Kraft, ihn zu wandeln.
Sie wirken nur von außen; Du aber belehrst und erleuchtest
die Herzen.
Sie begießen von außen; Du aber verleihst Fruchtbarkeit.
Ihre Worte dringen ins Ohr; Du aber gibst dem Gehör das Verstehen.
Also nicht Moses spreche zu mir, sondern Du, Herr, mein Gott, damit ich
nicht etwa sterbe und ohne Frucht bleibe, wenn ich nur von außen
ermahnt, aber nicht im Innern entzündet werde. Rede Du zu mir, damit
mir nicht zum Gericht das Wort werde, weil ich es gehört und nicht
befolgt, erkannt und nicht geliebt, geglaubt und nicht gehalten habe. Sprich
also, Herr; Dein Diener hört; denn „Du hast
Worte des ewigen Lebens" (Jo 6, 69). Sprich zu mir, damit meine
Seele ein wenig getröstet, mein ganzes Leben gebessert, Dir aber
Lob, Ruhm und ewige Ehre gezollt werde.
Drittes Kapitel
Lausche in Demut der Stimme
Gottes
Mein Sohn, höre meine Worte, Worte voll Milde, wertvoller als
die Wissenschaft aller Gelehrten und Weisen dieser Welt.
Meine „Worte sind Geist und Leben" (Jo 6,64)
und nicht nach menschlichen Begriffen zu beurteilen.
Nicht zur eitlen Ergötzung soll man sie gebrauchen, sondern
sie schweigend anhören und mit tiefer Demut und großer Inbrunst
aufnehmen.
Und ich sprach: „Heil dem, den Du, o Herr,
unterweisest und über Dein Gesetz belehrst, damit er in schlimmen
Tagen Linderung erhalte und auf Erden nicht trostlos sei" (Ps 93,12-13).
Ich, spricht der Herr, habe von Anfang an die Propheten gelehrt
und höre bis jetzt nicht auf, zu allen zu reden; aber viele sind gegen
meine Stimme taub und verhärtet. Allzu viele hören lieber die
Welt als Gott und folgen lieber den Begierden der Sinne als dem Willen
Gottes.
Die Welt verspricht nur vergängliche, unbedeutende Güter;
aber man dient ihr mit großer Gier; ich verspreche das Höchste
und Ewige, und doch bleibt das Herz der Menschen kalt.
Wer dient und gehorcht mir in allem mit so großer Sorgfalt,
wie der Welt und ihren Herren gedient wird? „Erröte,
Sidon, spricht das Meer" (Is 23,4). Und fragst du nach dem Grunde,
so höre:
Für
einen kleinen Vorteil läuft man weite Wege; für das ewige Leben
heben viele kaum einmal den Fuß vom Boden.
Man jagt nach kleinem Gewinn; um eine Mark wird mitunter würdelos
gezankt; für irgendeine Kleinigkeit schreckt man vor keiner Anstrengung
bei Tag und Nacht zurück. Aber, o Schande, sich nur ein wenig abzumühen
für das unwandelbare Gut, für den unschätzbaren Lohn, für
die höchste Ehre und ewige Herrlichkeit, dazu ist man zu träge.
Erröte, träger und mürrischer Knecht, dass jene mehr
für das Verderben tun, als du für das ewige Heil. Jene empfinden
mehr Freude an der Eitelkeit als du an der Wahrheit. Freilich werden sie
oft genug in ihrer Hoffnung getäuscht, meine Verheißung aber
täuscht niemand und lässt den, der auf mich vertraut, nicht leer
ausgehen. Was ich versprochen habe, gebe ich; was ich gesagt habe, erfülle
ich, wenn jemand bis zum Ende treu in meiner Liebe verharrt. Ich belohne
alle Guten, aber ich prüfe auch streng alle Frommen.
Schreibe meine Worte in dein Herz und beherzige sie immer wieder;
denn sie sind dir zur Zeit der Versuchung sehr notwendig.
Was du nicht gleich beim Lesen verstehst, wirst du am Tage der Heimsuchung
begreifen. Zweifach pflege ich meine Auserwählten heimzusuchen, in
der Versuchung und im Trost.
Und zwei Lektionen gebe ich ihnen täglich: Ich rüge ihre
Fehler und ermahne sie zum Fortschritt in den Tugenden.
„Wer meine Worte hört und sie verachtet,
der hat schon seinen Richter am Jüngsten Tage" (Jo 12,48).
Um die Gnade der Andacht
Herr, mein Gott, Du bist all mein Gut. Und wer bin ich, dass ich
es wage, mit Dir zu reden? Ich bin Dein armer Knecht, ein verächtlicher
Wurm, viel ärmer und verächtlicher, als ich es weiß und
zu sagen wage.
Gedenke doch, Herr, dass ich nichts bin, nichts habe und nichts
vermag. Du allein bist gut, gerecht und heilig; Du kannst alles, Du gibst
alles, Du erfüllst alles; den Sünder allein lässt Du leer.
„Gedenke Deiner Erbarmungen" (Ps 24,6) und
erfülle mein Herz mit Deiner Gnade, der Du nicht willst, dass Deine
Werke fruchtlos seien. Wie könnte ich es in diesem elenden Leben aushalten,
wenn Du mich nicht durch Deine Barmherzigkeit und Gnade stärktest?
Wende Dein Angesicht nicht von mir, warte nicht mit Deinem Kommen, entziehe
mir deinen Trost nicht, damit meine Seele nicht werde „vor
Dir wie Erdreich ohne Wasser" (Ps 142,6).
Herr, „lehre mich Deinen Willen tun" (Ps 142,10),
lehre mich würdig und demütig vor Dir wandeln; denn Du bist meine
Weisheit, Du kennst mich in Wahrheit und hast mich schon gekannt, ehe die
Welt wurde und bevor ich geboren war.
Viertes Kapitel
Lebe in Wahrheit und Demut
Mein Sohn, wandle immer in Wahrheit vor mir und suche mich in der
Einfalt deines Herzens.
Wer aufrichtig vor mir wandelt, ist vor bösen Anfeindungen
sicher, und die Wahrheit wird ihn von den Verführern und den Verleumdungen
der Gottlosen befreien. Wenn die Wahrheit dich frei gemacht hat, bist du
in Wahrheit frei und kümmerst dich nicht mehr um das eitle Geschwätz
der Menschen.
Herr, was Du sprichst, ist wahr. Möge es sich, darum bitte
ich dich, an mir erfüllen. Deine Wahrheit lehre und behüte mich.
Sie bewahre mich bis zu meinem seligen Ende.
Sie befreie mich vor jeder bösen Neigung und ungeordneten Liebe,
auf dass ich in großer Freiheit des Herzens mit Dir wandle.
Ich werde dich lehren, spricht die Wahrheit, was Recht ist und mir
wohlgefällig. Denke mit großem Abscheu und Schmerz an deine
Sünden und bilde dir niemals ein, deiner guten Werke wegen etwas zu
sein.
Du bist in Wirklichkeit ein Sünder, vielen Leidenschaften verhaftet
und darin verstrickt.
Dein Herz treibt dich immer wieder zu Nichtigkeiten; schnell fällst
du, schnell wirst du überwunden; schnell wirst du verwirrt, schnell
ausgelassen.
Du hast gar nichts, dessen du dich rühmen könntest, aber
vieles, was dich in deinen eigenen Augen gering und schlecht machen müsste;
denn du bist viel schwächer, als du zu begreifen vermagst.
Nichts erscheine dir also groß von allem, was du tust.
Nichts soll dir bedeutend erscheinen, nichts kostbar und bewundernswert,
nichts der Beachtung würdig, nichts erhaben, nichts wahrhaft lobens-
und begehrenswert außer dem, was ewig ist.
Es gefalle dir über alles die ewige Wahrheit, es missfalle
dir stets deine übergroße Armseligkeit.
Nichts fürchte so, nichts tadle und fliehe so wie deine Fehler
und Sünden; diese sollen dir mehr missfallen als irgendein Verlust
an zeitlichen Dingen.
Manche wandeln nicht aufrichtig vor mir, sondern suchen, von einer
gewissen Neugier und Anmaßung getrieben, meine Geheimnisse zu ergründen.
Dabei vernachlässigen sie sich selbst und ihr Seelenheil.
Diese fallen oft in große Versuchungen und Sünden, weil
ich ihrem Stolz und Vorwitz widerstehe.
Fürchte die Gerichte Gottes, erschrecke vor dem Zorn des Allmächtigen.
Grüble nicht über die Werke des Allerhöchsten nach, sondern
denke über deine Bosheit nach, wie sehr du dich vergangen und wieviel
Gutes du versäumt hast. Manche zeigen ihre Frömmigkeit nur in
Büchern, manche in Bildern, manche aber in äußeren Zeichen
und Formeln.
Manche haben mich im Munde; aber nur wenige im Herzen.
Andere gibt es, die mit erleuchtetem Verstand und geläutertem
Herzen stetig nach dem Ewigen trachten, ungern von irdischen Dingen reden
hören und mit Unlust ihren natürlichen Bedürfnissen dienen.
Diese spüren, was der Geist der Wahrheit in ihnen redet.
Denn er lehrt sie das Irdische geringschätzen und das Himmlische
lieben, die Welt verachten und bei Tag und Nacht nach dem Himmel verlangen.
(Quelle: "Dienst am Glauben",
Heft 2-2017, S. 39-42, A-6094 Axams)