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Das Heilswerk Jesu
im Leben Mariens
Thomas von Kempen,
aus der Nachfolge Mariens
(Fortsetzung)
4. Maria
unter dem Kreuz: Frau, siehe, dein Sohn
Ich preise dich und
danke dir, Herr Jesus Christus, Tröster aller Betrübten, für
deinen schmerzvollen Blick, mit dem du voll Mitleid auf deine geliebteste
Mutter schautest, als sie in tiefer Trauer unter dem Kreuz stand. Die Größe
ihres Schmerzes kanntest du allein besser, der du den vertrautesten Einblick
in ihr Herz hattest. Denn nichts war dir auf Erden teurer als deine jungfräuliche
Mutter. Jene liebte nichts mehr als dich, ihren göttlichen Sohn, der
wahrhaft von ihr geboren wurde und den sie doch als Herr aller Dinge und
als ihren Schöpfer erkannte.
Als sie dich am Kreuz
hängen sah, den sie innigst liebte, war sie mehr auf dich als auf
sich bedacht. Gleichsam sich selbst völlig vergessend hing sie geistigerweise
in der Höhe mit dir mitgekreuzigt, obwohl sie noch körperlich
unter dem Kreuz weinend stand.
Ich lobe und verherrliche
dich für dein unermesshches Leiden, worin du damals mit den Schmerzen
deiner betrübten Mutter kindlich mitfühltest. Sie erlitt in Wahrheit
alle deine Schmerzen als die eigenen, beweinte jede einzelne deiner Wunden
wie eigene und wurde so oft von neuen Qualen niedergedrückt, wie sie
mit ihren mütterlichen Augen Blut aus deinem Körper fließen
sah, oder wenn sie deine Stimme vom Kreuz aus zu sich sprechen hörte.
Ich lobe und verehre
dich für den liebevollsten Zuspruch, den du schließlich mit
einem kurzen Wort an deine betrübte Mutter gerichtet hast. Du hast
sie deinem Lieblingsjünger Johannes wie einem treuesten Beschützer
anvertraut und die Jungfrau mit dem jungfräulichen Johannes durch
das Band unlösbarer Liebe verbunden, als du sprachst: Frau, siehe,
dein Sohn! Und zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! (Joh 19,26f.)
Welch glückselige
Gemeinschaft und holdes Anvertrauen, das jungfräuliche Unberührtheit
vereinigte und heiligte. In diesem Wort hast du nämlich das Gefühl
liebevoller Besorgnis um die Ehre deiner Mutter gezeigt. Du schenktest
ihr die Hilfe des keuschen Jüngers und setztest ihn an deiner Stelle
gewissermaßen als zweiten Sohn ein, der an keuschen Lebenswandel
gewöhnt war und sich gewissenhaft um die alltäglichen Dinge kümmerte.
Es war billig und recht, dass deine kindliche Fürsorge so handelte,
damit die heilige Mutter und unversehrte Jungfrau nicht eines treuen Dieners
entbehrte, damit sie nicht über einen längeren Zeitraum hinweg
einsam und verlassen unter den Juden als Fremde erschien, als sie auf der
Stelle deiner süßen Gegenwart beraubt war.
Möge dir jetzt,
gütige Gottesgebärerin Maria, diese heilige Anordnung und sehr
edle Anempfehlung deines Sohnes gefallen. Nimm mit Herzlichkeit diesen
Jünger hier an, den dein Sohn Jesus für dich bestimmt hat. Hier
ist der Apostel Johannes, auserwählt in seiner Jungfräulichkeit
und der Lieblingsjünger Jesu.
Er ist liebenswürdig
im Charakter, gütig beim Reden, sittsam mit den Augen, bescheiden
in der Haltung, nüchtern beim Essen, schlicht in der Kleidung, fähig
zum
Nachgeben und bereit
zu gehorchen. Er ist auch dein sehr geliebter Jünger, deiner Wesensart
verwandt, von gutem Ruf, rein im Geist und jungfräulich im Leib, Gott
wohlgefällig und von allen geschätzt: Er ist überaus würdig,
mit dir gemeinsam zu leben, o Mutter Gottes. Ich weiß, immer hat
es dir gefallen und gefällt es dir, was deinem Sohn gefallen hat.
Vor allem willst du immer, dass das geschieht, was er anordnete, der ja
in allen seinen Handlungen nicht seinen eigenen Willen, sondern die Ehre
seines Vaters im Himmel suchte.
Deshalb zweifle ich
nicht daran: Es gefällt dir, dass dir Jesus kurz vor seinem Tod Johannes
an seiner statt zurückgelassen hat.
Nimm nun, heiliger
Johannes, diesen begehrenswerten, dir anvertrauten Schatz an. Nimm die
verehrungswürdige Mutter Jesu an, die Königin des Himmels, die
Herrin der Welt, deine geliebte Verwandte und Schwester deiner Mutter,
die heilige Jungfrau. Bis jetzt wurde die selige Jungfrau nach dem Gesetz
des Fleisches als deine Verwandte bezeichnet; nun wird sie durch ein geheiligtes
Band und göttliches Recht deine Mutter genannt, welche dir durch besondere
Gnade anvertraut wurde. Du wurdest zuvor dem Fleische nach speziell Sohn
des Zebedäus genannt, Bruder des älteren Jakobus und Verwandter
unseres Herrn und Heilandes; und später wurdest du ein Jünger
Jesu. Nun wirst du mit neuem Namen „Adoptivsohn Mariens" genannt, der ihr
fortan mit besonderer kindlicher Liebe gehorchen will.
Tue also, was Christus
befohlen hat: Erfülle das Wort der geheiligten Übergabe, und
dir wird die Dankbarkeit aller und die Ehre der ganzen Welt zuteil. Johannes
handelte mit großer Freude, wie es ihm Jesus am Kreuz gesagt hatte.
Denn von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich und sorgte für
sie, diente ihr aufmerksam, gehorchte ihr ergeben wie der eigenen Mutter
und liebte sie herzlich.
Freue dich und juble,
seliger Johannes, über das dir anvertraute Gut. Das Liebste nämlich,
was Christus auf Erden hatte, übergab er dir voll Vertrauen. Er bereicherte
dich im Übermaß, als er Maria in seinem Testament mit dir verband,
welche die heiligen Engel nicht würdig genug loben können. Christus
übergab dem heiligen Petrus die Schlüssel des Himmelreiches;
dich setzte er aber ein zum Kammerdiener seiner Mutter. Einst war Maria
mit dem heiligen Josef verlobt, jetzt aber ist sie dir als Zweitem anvertraut.
Jenem wurde durch den Engel gesagt: Fürchte dich nicht, Maria als
deine Frau zu dir zu nehmen (Mt 1,20). Nun spricht der Herr der Engel zu
dir: Siehe, deine Mutter! Und wie jener der Jungfrau nahe war bei der Geburt
des Sohnes, so bist du der Mutter nahe beim Leiden Christi und in der langen
Zeit nach seiner Auffahrt in den Himmel. Wenn aber der selige Johannes
der Täufer noch gelebt hätte, hätte er wegen seiner nahen
Verwandtschaft und seiner vorzüglichen Keuschheit als sehr geeigneter
Gehilfe und außerordentlicher Brautführer gedient. Aber da Josef
nicht mehr lebte - man weiß nämlich nichts darüber, ob
der damals noch lebte oder schon verstorben war -, da Johannes, lange in
Ketten gelegt, hingerichtet war, da auch Jesus, dem Tode nahe, schnell
den Augen der Mutter entschwinden würde: Ersetze du die Stelle all'
dieser lieben Personen und sei an Christi statt Unterpfand für den
entrissenen Sohn. Ich vertraue dem Herrn Jesus. Deinem Bruder Jakobus und
allen übrigen Aposteln wird dies sehr gefallen und keiner der Freunde
wird auf dich neidisch sein, sondern jeder Fromme aufrichtig sich mit dir
freuen.
Die reiche Fülle
deiner Tugenden hat diese große Auszeichnung verdient: d. h. die
vollkommene Verachtung der Welt, die Liebe zu Jesus, der liebenswürdige
Charakter, die jungfräuliche Unberührtheit, die Ausgeglichenheit
des Geistes, die Freiheit der Seele, die Reinheit des Gewissens und ein
rechtschaffenes Leben. Nimm also die Mutter Christi in deine Obhut, und
große Gnade wird dir daraus zuteil. Bei ihr wirst du viel und großen
geistlichen Fortschritt machen. Denn du wirst durch ihre Worte unterrichtet,
durch ihre Beispiele erbaut, durch ihre Gebete unterstützt, durch
ihre Ermahnungen ermutigt, durch ihre Liebe entzündet, durch ihre
Frömmigkeit angezogen und durch ihre Betrachtung erhoben: Du bist
also mit Freude erfüllt und überreich an himmlischen Genüssen.
Du wirst aus ihrem Munde göttliche Geheimnisse hören, Verborgenes
lernen, Wunderbares erfahren und Unaussprechliches verstehen. Durch ihre
Gegenwart wirst du keuscher und auch reiner bleiben, du wirst heiliger
und auch in einer größeren Ergebung beharrlich sein. Ihr Schauen
ist schamhaftig, ihr Sprechen klug, ihr Handeln gerecht. Ihre Lektüre
ist Jesus, ihre Betrachtung Christus, ihre Beschauung Gott. Die Anmut ihres
Antlitzes leuchtet wie die Sonne, ihr ehrwürdiges Aussehen schadet
niemandem, ihr feines Auftreten macht den Betrachtenden sittsam, ihr Zuspruch
vertreibt jedes Übel.
Derart
groß ist die Würde Mariens, dass sie alle Heiligen an Reinheit
und Gnade übertrifft. Und
du wirst ihr Beschützer, anvertraut vom höchsten König des
Himmels. Also biete ihr eifrig deine Dienste an, erweise ihr Ehre und leiste
ihr Hilfe mit zuvorkommender Aufmerksamkeit. Stehe jetzt unter dem Kreuz,
bewache die Seite der Jungfrau, mit deinen Armen halte die Erschöpfte,
umarme Maria, stütze die Geschwächte und tröste die Weinende.
Weine auch mit der Weinenden und seufze mit der Seufzenden: Gehe, wenn
sie geht, bleibe stehen, wenn sie steht, setze dich, wenn sie sitzt. Weiche
nicht von der Schmerzhaften, erfülle das Werk der Barmherzigkeit und
bereite dich schließlich für die Bestattung des sterbenden Jesus.
Führe die Mutter mit dir zur Stelle des Grabes, führe sie in
die Stadt zurück, führe sie in das Haus und stärke die Trösterin
aller Betrübten. Du sollst ein engelgleicher Diener sein, du darfst
in dieser Situation ganz angemessen einen Trost spenden. Denn auch Christus
ist in seiner Agonie von einem Engel gestärkt worden. Auch wenn er
ihn nicht brauchte, er wollte dennoch von einem Niedrigeren besucht werden
und wies den Tröstenden nicht ab.
Siehe, teuerster Johannes,
zu welcher erhabenen Aufgabe bist du berufen, welche Jungfrau wird dir
übergeben, wessen Mutter wird dir anvertraut, um ihr deine Dienste
zu erweisen!
Nun flehe ich dich
also demütig an: Bitte inständig für mich Sünder, dass
ich in der Liebe zu Christus glühe und dass ich nicht treulos beim
Lob der seligen Jungfrau gefunden werde, sondern zerknirscht bin bei ihrem
Schmerz.
5.
Die erhabenen Tugenden der seligen Jungfrau, ihr Schmerz und ihre Tränen
Ich preise, lobe und
verherrliche dich, heilige Gottesgebärerin, Jungfrau Maria, für
alle deine reichlich von Gott verliehenen Vorzüge und Gaben, für
deine zahllosen Tugenden und für die außerordentlichen Gnadenprivilegien,
mit denen du dich vor allen Heiligen auszeichnest und auf Erden aufleuchtest.
So warst du würdig
Mutter Gottes zu werden, das aus dir menschgewordene Wort Gottes in deinem
Schoß zu hegen, in deinen seligen Armen zu halten, zu umarmen und
zu tragen.
Ich preise, lobe und
ehre dich, auserwählte Mutter Gottes und demütige Magd des Herrn,
für alle deine liebevollen Dienste und notwendigen Hilfen, die du
deinem Sohn, dem menschgewordenen Christus, erwiesen hast; und für
die vielfältigen Verfolgungen, Entbehrungen, Anstrengungen und Ermüdungen,
die du mit ihm sanftmütig erduldet hast.
Ich preise, lobe und
huldige dir, glorreiche Maria, Mutter und Tochter des ewigen Königs,
für deine häufigen und liebevollen Gespräche mit Jesus und
für die göttlichen Worte aus seinem Munde, die du voll Einsicht
gehört, mit Sorgfalt und Lauterkeit bewahrt und liebevoll in deinem
Herzen erwogen hast.
Ich preise dich für
die großartigen Tröstungen, die du ganz häufig von ihm
erhalten hast und für deine unermesslichen Wonnen und göttlichen
Freuden. Diese wurden durch seine Gegenwart und durch die gnadenhafte Anhauchung
des Heiligen Geistes hervorgerufen und lange und sehnsüchtig von dir
im Herzen bewahrt.
Ich preise, lobe und
erhebe dich, meine ehrwürdige Herrin, heilige Maria, für dein
reinstes, heiligstes, Gott und den Engeln wohlgefälligstes Leben,
das du über lange Zeit hinweg in großer Armut und Stille mit
Jesus geführt hast und das durch vielerlei Leiden und Widerwärtigkeiten
geprüft wurde. Es ist für alle Christen als Beispiel zur frommen
Nachahmung hinterlassen und bis zum Ende der Zeiten für die gesamte
Kirche in ihrem Kampf überaus nützlich.
Ich preise, lobe und
rühme dich, gütigste und treueste Gottesmutter Maria, für
alle deine frommen Übungen und heiligen Betrachtungen über das
göttliche Gesetz bei Tag und Nacht. Ich preise dich für deine
innigsten Gebete, für deine Tränen und dein Fasten, das du Gott
mit großem Eifer dargebracht hast zur Bekehrung der Sünder und
für die Ausdauer der Gerechten. Ich preise dich für dein tiefes
Mitleiden mit den Armen und Schwachen, den Versuchten und von Angst Geplagten.
Ich preise dich für deine dürstende Sehnsucht nach dem Heil des
Menschengeschlechtes, von dem du wusstest, dass es durch den bitteren Tod
deines Sohnes erlöst werden muss.
Und obwohl du mit
unsagbarer Liebe deinen einzigen Sohn liebtest, hast du dich dennoch nicht
vor der schrecklichen Kreuzigung zurückgezogen, sondern hast dich
persönlich mit deinem Sohn ganz der göttlichen Anordnung unterworfen.
Dennoch littst du in all' seinen Leiden heftig mit und folgtest Jesus,
der vorausging, bis zur Schmach des Kreuzes mit entschiedenem Schritte.
Dabei achtetest du weder auf die Flucht der Jünger noch fürchtetest
die Rohheit der Juden, sondern du warst bereit, eher den Tod mit dem Sohn
zu erleiden, als ihn in einer solchen Bedrängnis zu verlassen.
Ich preise, lobe und
erhebe dich, treueste und geliebteste Gottesmutter, himmlische Maria, für
dein Ausharren in fester Treue und vollkommener Liebe, als die Apostel
aus Furcht flohen, einige zwar mit Beschämung folgten, du allein aber
während der Passion deines Sohnes die unauslöschliche Fackel
der Treue mit äußerster Standhaftigkeit gehalten hast. Du hattest
keinen Zweifel an seiner kommenden Auferstehung nach drei Tagen, wie es
von ihm ganz klar vorausgesagt war. Denn als sich alle Freunde Jesu zerstreut
hatten, bist du, betrübteste Mutter, mit einer unbedeutenden Schar
von Frauen zum Kalvarienberg geeilt, wobei du zwischen einer drohenden
Volksmenge hindurchschreiten musstest. Du tatest dies, um möglichst
schnell deinem gekreuzigten Sohn nahe zu kommen und ihn noch lebend zu
sehen. Und bevor er starb, erhieltst du von ihm das Wort seines liebevollen
Geschenkes.
Ich preise und lobe
dich und übergebe mich dir mit meiner ganzen Kraft, Heilige und Unbefleckte
Jungfrau Maria, für dein schmerzvolles Stehen unter dem Kreuz Jesu.
Dort standest du lange erschöpft und betrübt, nach der Prophetie
Simeons vom Schwert des Schmerzes durchbohrt. Ich preise dich für
die vielen Tränen, welche du damals reichlich vergossen hast, für
deine große Treue und unbeugsame Festigkeit, die du deinem sterbenden
Sohn gegenüber in äußerster Not bewiesen hast. Ich preise
dich für den bedrückenden Kummer deines Herzens, den du herzzerreißend
im Augenblick seines Todes empfandest. Ich preise dich für deinen
jammervollen Blick, als du ihn tot vor dir hängen sahst.
Ich preise dich für
deine ehrfürchtige Umarmung, womit du ihn vom Kreuz herab in deine
mütterlichen Arme genommen und wehklagend in deinen Schoß gelegt
hast. Ich preise dich für deinen trauervollen Gang zum Ort der Bestattung,
als du hinter den Schritten der Bestatter dem heiligen Leichnam betrübt
folgtest und sahst, wie dein Sohn ins Grab gelegt und unter einem schweren
Stein eingeschlossen wurde. Ich preise dich für die beweinenswerte
Rückkehr vom Eingang des Grabes zum Haus, in welchem die Herberge
war. Dort hast du mit vielen versammelten Getreuen über den Tod deines
geliebten Sohnes immer wieder und überaus reichlich getrauert und
geklagt und alle, welche dir nahe standen, zur Mitklage angehalten.
Leide nun, meine Seele,
mit der schmerzhaften Jungfrau, der betrübten Mutter, der geliebten
Maria. Wenn du Maria liebst, musst du mit ihr bei so großen Schmerzen
Mitleid haben, damit sie auch dir in deinen Schwierigkeiten zu Hilfe kommt.
Siehe, die liebevolle
Mutter beklagt ihren einzigen Sohn; Maria Kleopas beklagt den vielgeschätzten
Verwandten, Maria Magdalena beklagt den Arzt ihrer Seele, Johannes beklagt
seinen geliebten Meister und alle Apostel beklagen ihren Herrn, der ihnen
genommen ist. Wer würde nicht klagen, wo so viele Freunde zugleich
klagen? Es gab da in Jerusalem wirklich ein großes Wehklagen. Steh
auch du hier ein wenig und lerne von der jungfräulichen Mutter das
Trauern. Ihre bitteren Tränen werden dein Herz im Inneren bewegen
können. Siehe, jetzt steht sie unter dem Kreuz, verwundet durch große
Schmerzen - einst stand sie neben der Krippe, erfüllt von himmlischen
Gesängen. Jetzt wird sie vom Geschrei der Juden belästigt - ehemals
wurde sie durch den Gesang der Engel gestärkt. Jetzt ist sie mit dem
Mantel der Trauer bekleidet - einst wurde sie von den heiligen Königen
geehrt. Jetzt wird sie bespritzt mit dem Blut ihres Sohnes, dessen weißes
Antlitz sie ehemals liebkoste. Sie sieht ihn jetzt unter den Räubern
hängen, von dem sie oftmals gesehen hatte, wie er viele Zeichen unter
dem Volk tat. Sie sieht ihn wegen der Hässlichkeit der Wunden als
einem Aussätzigen ähnlich, von dem sie wusste, dass er vielen
Aussätzigen die Genesung geschenkt hatte. Sie schaut auf ihn als einen
von unzähligen Schmerzen Geplagten, der jede Entkräftung von
den Schwachen vertrieben hat. Sie erblickt ihn als Todgeweihten, der den
verstorbenen Lazarus ins Leben zurückgerufen hatte: Alles Erfreuliche
hat sich ihr in Traurigkeit und alles Süße in Bitterkeit verwandelt.
Der glänzende
Meeresstern wird durch zahllose und bedrohliche Stürme verhüllt,
aber ihr Geist, der in Gott fest verankert bleibt, wird vor der Bosheit
der Menschen
nicht besiegt. Sie
steht also unter dem Kreuz mit Ausdauer und Geduld, mit Treue und Liebe,
ohne die zu fürchten, welche mit dem Tode drohen, und ohne vor denen
zu fliehen, die verächtlich schmähen. Sie erträgt alles
mit Gleichmut und trachtet danach, im Einklang mit ihrem erniedrigten Sohn
zu sein, ohne den grausamen Feinden zu antworten. Sie gibt keine unbeherrschten
Worte von sich, zeigt keine Gesten der Empörung, sondern sie seufzt
tief, sie weint voll Liebe, sie ist von ängstlichem Schmerz erfüllt,
sie leidet innerlich mit und ist sehr bedrückt. Sie ist nicht erzürnt
über die Peiniger, sondern sie betet für die Übeltäter,
sie betrauert und beseufzt, welche Christus höhnen und lästern.
So stand die Mutter
Jesu unter dem Kreuz in einem Meer von Tränen. Durch dieses Vorbild
ihrer Sanftmut bringt sie allen Bedrängten Trost.
Ihr alle, die ihr
auf dem Weg Kalvariens vorbeizieht, schaut auf das schmerzhafte Stehen
der heiligen Maria. Achtet auf die rechte Seite des Kreuzes und seht Maria,
die Christusträgerin, ob ein Schmerz ihrem Schmerz gleicht, und ob
es irgendwann einmal eine solche Mutter auf Erden gab, die in so großer
Liebe mit ihrem Sohn mitlitt.
Denn mit jedem einzelnen
der misshandelten Glieder Jesu wurde sie selber seelisch mitverwundet.
Sie erlitt so oft das Martyrium, wie sie die blutigen Wundmale ihres Sohnes
betrachtete.
Sieh nun zu, fromme
Seele, dies deinem Herzen tief einzuprägen. Sei sanftmütig und
tapfer, wenn der Augenblick der Versuchung kommt. Lass dich nicht verwirren
oder verzweifle nicht, wenn man wegnimmt, was du sehr schätzt, oder
wenn dir verweigert wird, was du für notwendig hältst. Denn gewöhnlich
werden die liebsten Freunde Jesu oft mit schweren Leiden geprüft.
Wenn nämlich Gott seinen eigenen Sohn nicht schonte, sondern zum Heil
von uns allen den schwersten Strafen aussetzte, wozu suchst du hier Freuden?
Wenn Christus nicht sich selbst suchte, sondern gehorsam und bereit: war
für das Niedrigste und Peinlichste, warum fürchtest du so Mühe
und Schmerz und nimmst nicht eher aus Liebe zum Gekreuzigten Hartes und
Raues gerne an? Wenn er für seine heiligste Mutter viele Widerwärtigkeiten
in der Welt zuließ, wenn er es gestattete, dass sie oftmals betrübt
war, heftig Schmerz empfand und über längere Zeit hinweg weinte,
wie wirst du hier ohne Prüfungen leben können?
Und wenn du einmal
alle Freunde Gottes betrachtest, du wirst keinen finden, der das Meer dieses
Lebens ohne harte Prüfung durchfahren hat. Deswegen nimm dir vom Bild
des Gekreuzigten und seiner gebenedeiten Mutter das Beispiel einer unermüdlichen
Geduld und scheue dich nicht, etwas Geringes zu ertragen für dein
eigenes Seelenheil und zur Wiedergutmachung der unendlichen Liebe Jesu.
So wirst du dich auch bei der Offenbarung der verheißenen Herrlichkeit
freuen können über sein Erscheinen in alle Ewigkeit.
Die gütigste
Mutter Jesu versteht einfühlsam mit den Bedrängten mitzuleiden.
Sie hat aus ihren Leiden gelernt, mit den Betrübten herzlich Mitleid
zu haben und ihre Armen nicht zu vergessen. Sie wird für die Bittenden
da sein, schnell denen helfen, die sie anrufen, und all' ihren Dienern
gewogen sein.
O barmherzigster Jesus, liebreicher Sohn Mariens, gieße, so bitte ich, die Gabe deiner ergebenen Tränen über mich und verwunde mein Herz mit dem Affekt innigen Mitleids, womit bekanntermaßen das Herz deiner treuen Mutter erschüttert war! Blicke auf mich mit jenen liebevollen Augen, womit du auf deine Mutter und den Jünger blicktest, als sie unter dem Kreuz weinend standen. Damals hast du die Mutter dem Jünger anvertraut und ihnen einen letzten Gruß hinterlassen mit den bewegten Worten: Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter! Besuche mich, ich flehe dich an, im Augenblick des Todes mit deiner Gnade und lasse mich jene Stimme hören, die der selige Johannes vom Kreuz herab vernommen hat: Siehe, deine Mutter! Wenn meine Seele dieses Wort vernimmt, wird sie sicher gegen die Angst vor dem brüllenden Feind abgewehrt werden.
O meine gütigste Herrin, heilige Maria, treueste Fürsprecherin aller Christen, ich bitte dich um all' deiner außerordentlichen Verdienste willen, wodurch du Gott höchst wohlgefällig bist, um aller einzelnen Aufmerksamkeiten willen, die du deinem Sohn mit großem Gefallen erwiesen hast, und um aller Tränen willen, die du während seiner Passion bitter vergossen hast: Lasse dich herab, mit mir Armen Mitleid zu haben, sorge für mich, wie du es gewohnt bist, mit deiner mütterlichen Liebe und rechne mich zu der Zahl der Diener, welche dir besonders nahe und von dir sehr geliebt sind.
O meine einzige Hoffnung,
glorreiche Jungfrau Maria, komm und zeige mir dein Antlitz, bevor meine
Seele den Körper verlässt! Wende in Milde und Wohlwollen deine
barmherzigen Augen mir zu, mit denen du Jesus, die gebenedeite Frucht deines
Leibes, oftmals mit großer Freude anblicktest und die während
seiner Passion von den vielen Tränen nass wurden.
Steh mir jetzt bei,
heiligste Mutter Jesu, mit der lieblichen Schar deiner Jungfrauen und mit
der ehrwürdigen Gemeinschaft aller Heiligen, wie du auch deinem vielgeliebten
Sohn bei seinem Sterben am Kreuz in Treue und Beharrlichkeit bis zum Ende
beistandest. Denn nach deinem einzigen Sohn, meinem Herrn Jesus Christus,
finde ich keine so große und schnelle Hilfe in der Not, wie dich,
gütigste Mutter aller Betrübten.
6.
Die Tränen der seligen Jungfrau Maria unter dem Kreuz
O liebevolle, heilige,
schmerzvollste Tränen der seligen Unbefleckten und allzeit jungfräulichen
Maria, die ihr am Karfreitag aus ihren Augen geflossen seid, als sie in
tiefem Mitleid Christi bitterstes Leiden und seinen Tod am Kreuz sah.
Wie oft seid ihr über
die Wangen und ihre Brust auf den Saum ihres Gewandes geronnen, habt dein
heiligen Schleier ihres ehrwürdigen Hauptes reichlichst genässt,
seid auf ihre heiligen Füße getropft und habt den Staub der
Erde angefeuchtet. O wenn ich doch damals hinter den Fußstapfen meiner
Herrin gegangen wäre und die warmen Tränen ihrer heiligen Augen
mit meiner Hand in einem gesonderten Gefäßlein gesammelt hätte!
Somit hätte ich zur Vergebung aller meiner täglich begangenen
Sünden nicht nur meine Füße waschen können, die ich
oftmals durch schlechte Vorhaben und unanständige Leidenschaften befleckt
habe, sondern auch die Hände und den Kopf, d. h. die Worte und schlechten
Taten.
O gütige Mutter
Gottes, Jungfrau Maria, sei mir gnädig und tilge alle meine Fehler
durch dein bitterstes Wehklagen und deine treue Fürsprache!
O liebste Maria, eile meiner Seele in der letzten Stunde meines Lebens zu Hilfe und komme mit der Übermacht der Engel und Heiligen, um von mir die Schrecken des bösen Feindes und die Qualen der Hölle abzuwehren! Gedenke des Kostbaren Blutes und unschuldigen Todes deines geliebten Sohnes Jesus Christus, der für mich Sünder gelitten hat und von der Lanze durchbohrt wurde. Gedenke all' deiner Tränen, die du in deinem ganzen Leben vergossen hast, und erbarme dich meiner, wenn es zum Sterben kommt und ich zu dir seufze. Denn ich vertraue sehr auf deine Verdienste und die Fürbitten der Heiligen, o milde, o gütige, o süße Mutter Gottes, Jungfrau Maria. Amen.
(Quelle:
"Dienst am Glauben", Heft-Nr. 2, April-Juni 2013, S. 34 - 41, Innsbruck,
nur für den priv. Gebrauch)