|
Sie haben alle schon von den Werken der Barmherzigkeit gehört.
Die Kirche unterscheidet Werke der leiblichen und der geistlichen Barmherzigkeit.
Die Werke der Barmherzigkeit zusammengefaßt sind die praktischen
Äußerungen der Nächstenliebe, und wer sie übt, der
kann gewiß sein, dass er seinen Nächsten im Sinne des Herrn
liebt.
Die Werke der geistlichen Barmherzigkeit sind
von besonderer Art. Sie lauten: Die Sünder zurechtweisen, die Unwissenden
lehren, den Zweifelnden recht raten, die Betrübten trösten, Unrecht
geduldig leiden, Beleidigungen gern verzeihen, für die Lebenden und
für die Verstorbenen beten. Wir wollen uns mit einem einzigen
dieser geistlichen Werke der Barmherzigkeit befassen, nämlich mit
der geistlichen Zurechtweisung. Die Zurechtweisung ist das Aufmerksammachen
eines anderen auf einen Fehler, auf eine Sünde. Wir unterscheiden
die brüderliche und die autoritative Zurechtweisung. Brüderliche
Zurechtweisung, zu der wir alle gerufen sind, autoritative Zurechtweisung,
die den Oberen, den Vorgesetzten obliegt. Wir unterscheiden auch die Zurechtweisung
als Pflicht und als Empfehlung. Die Pflicht ist selbstverständlich
strenger, die Empfehlung ist nicht so streng.
Die Heilige Schrift weist an vielen Stellen auf die brüderliche
und auf die autoritative Zurechtweisung hin. Schon im Alten Bunde heißt
es: „Wenn du den Freund zurechtweisest, dann tue es, weise ihn zurecht,
damit er nicht ohne Einsicht bleibe und sage: Ich habe es nicht getan.
Oder wenn er es getan hat, dass er es nicht wieder tut." An einer anderen
Stelle heißt es: „Weise deinen Bruder zurecht! Du sollst ihn nicht
im Herzen hassen, sondern weise ihn zurecht, so dass du seinetwegen keine
Sünde auf dich lädst"- auf dass du seinetwegen keine Sünde
auf dich lädst. Wir sehen, die Pflicht zur Zurechtweisung kann so
ernst sein, dass man schuldig wird, wenn man sie unterläßt.
Zurechtweisung kann Pflicht sein.
Im Evangelium ist immer wieder von dieser Verpflichtung zur Zurechtweisung
die Rede.
„Wenn dein Bruder wider dich gefehlt hat, so weise ihn zurecht zwischen
dir und ihm allein. Wenn er dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen.
Wenn er dich aber nicht hört, dann nimm noch einen oder zwei mit dir
und weise ihn so zurecht, dass es durch den Mund zweier oder dreier Zeugen
feststehe, dass du ihn zurechtgewiesen hast. Wenn er auch diese nicht hört,
dann sage es der Kirche", also den Vorgesetzten. „Hört er aber auch
die Kirche nicht, dann soll er sein wie ein Sünder und Zöllner
und wie ein Heide." Das Evangelium bietet einen ergreifenden Fall einer
Zurechtweisung. Am Kreuze hingen neben dem Heiland zwei Verbrecher. Der
eine von ihnen lästerte den Herrn. Das war dem anderen gar nicht recht.
Er sagte zu ihm: „Bist du recht bei Troste?" Der andere hatte nämlich
gesagt zum Heiland: „Wenn du der Messias bist, dann hilf dir und uns!"
Der rechte Schächer sagte zu ihm: „Fürchtest auch du Gott nicht?
Wir leiden, was wir verdient haben, aber dieser hat nichts Böses getan."
Das war eine Zurechtweisung im Angesichte des Todes.
Auch beim heiligen Paulus findet sich die doppelte Weise der Zurechtweisung,
nämlich die brüderliche und die autoritative. Er schreibt einmal
im ersten Korintherbrief: „Wenn ein Glied gefährdet ist, dann leiden
alle mit", sind also besorgt um sein Heil. An anderer Stelle schreibt er
an Timotheus, der ja Bischof war in Ephesus: „Weise die Sünder zurecht
im Angesichte aller, damit auch die übrigen sich fürchten." Und
im Brief an die Thessalonicher heißt es noch einmal: „Weiset die
Unordentlichen zurecht!" Die alte Kirche hat die Pflicht zur Zurechtweisung
sehr ernst genommen. In der Zwölfapostel-Lehre aus dem 2. Jahrhundert
heißt es: „Weiset einander zurecht, nicht im Zorn, sondern im Frieden!"
Die Notwendigkeit der Zurechtweisung läßt sich leicht begreifen.
Es wäre ein grausamer Mensch, der einen Blinden, der am Rande eines
Abgrundes steht, nicht zurückreißt. Es ist unsere Verantwortung
für den Bruder und für die Schwester, die uns zwingt, Zurechtweisung
zu üben. Wer etwas bessern will und es vernachlässigt, den anderen
zurechtzuweisen, der hat Anteil an seiner Sünde.
Die Voraussetzungen zur Zurechtweisung sind die folgenden. Im allgemeinen
besteht die Pflicht zur Zurechtweisung nur bei Sünden. Aber nicht
nur bei schweren Sünden. Auch läßliche Sünden können
sich auswachsen und zu schweren Sünden werden. Deswegen meine ich,
wir sind, jedenfalls unter bestimmten Umständen, auch verpflichtet,
bei läßlichen Sünden Zurechtweisung zu üben. Wie,
das werden wir noch sehen. Aber die Zurechtweisung kann eine Pflicht sein,
nicht nur bei schweren, sondern auch bei läßlichen Sünden.
Als Empfehlung geht die Zurechtweisung viel weiter. Sie ist eine notwendige
Maßnahme der Erziehung. Wie soll denn jemand erzogen werden, ohne
dass er zurechtgewiesen wird? Also auch wo keine Sünde vorliegt, bedürfen
die Menschen der Zurechtweisung. Man denke an die Tischsitten, an die Körperpflege,
an die Kleidung, an den Umgang mit den Menschen. Träger der Zurechtweisung
ist jeder Mensch ohne Ausnahme. Alle sind wir angehalten, Zurechtweisung
zu üben. Allerdings in einer bestimmten Reihenfolge. Es gibt Menschen,
die uns mehr anvertraut sind als andere: Mann und Frau, die Kinder, die
Eltern, die Verwandten, die Freunde, die Arbeitskollegen, die Landsleute,
die uns zur Erziehung Anvertrauten. Das alles sind Menschen, denen wir
die Zurechtweisung schulden. Vor allem aber sind die Vorgesetzten aufgerufen,
Zurechtweisung zu üben. Sie dürfen sich nicht mit der brüderlichen
Zurechtweisung begnügen, sie müssen die väterliche Zurechtweisung
üben und die autoritative Zurechtweisung. Die Unterlassung der Zurechtweisung
ist die spezifische Versuchung der Vorgesetzten. Warum? Alle Menschen wollen
beliebt sein. Durch Zurechtweisung wird man nicht beliebt, macht man sich
unbeliebt. Durch Zurechtweisung erwirbt man sich keine Freunde. Die Menschen
wollen aber Freunde haben. So liegt die Versuchung nahe, die Zurechtweisung
zu unterlassen. Auf diese Weise wird man beliebt und scheint man sich Ruhe
zu verschaffen. Aber dagegen erhebt der heilige Augustinus Einspruch, wenn
er sagt: „Alles schleifen lassen und allem durch die Finger sehen, ist
nicht Liebe, sondern Feigheit."
Eine weitere Bedingung zur Zurechtweisung ist, dass die Sünde
des anderen moralisch gewiß ist. Was heißt das: moralisch gewiß?
Nun, es darf kein vernünftiger Zweifel daran bestehen. Man muss die
Sünde so kennen, dass man überzeugt ist: Jawohl, sie liegt tatsächlich
vor. Als Privatperson braucht man nicht nachzuforschen, aber als Autoritätsperson
muss man nachforschen, muss man Aufsicht üben, muss man Kontrollen
vornehmen. Weil die Vorgesetzten in unserer Kirche jahrzehntelang die Aufsicht
und die Kontrollen haben schleifen lassen, weil sie es jahrzehntelang versäumt
haben, Zurechtweisung zu üben, deswegen ist es zu der Auflösung
und Zersetzung gekommen, die wir jetzt beklagen. Willkürlichkeit in
der Liturgie, Unterlassung der Spendung und des Empfanges des Bußsakramentes,
unzulässige gottesdienstliche Gemeinschaft mit Nichtkatholiken, das
alles sind Fehler, die nicht gerügt wurden. An der Universität
Saarbrücken, meine lieben Freunde, bestand eine Sektion „Katholische
Theologie". Dort sollten mehrere Professoren den Glauben vertreten, aber
einige haben den Unglauben vertreten. Der Bischof von Trier ... wurde wiederholt
aufmerksam gemacht auf diese Vorgänge. Er hat nichts unternommen!
Jetzt ist der eine von diesen Professoren aus der Kirche ausgetreten.
Im allgemeinen braucht man die Zurechtweisung nur vorzunehmen, wenn
auf einen Erfolg zu hoffen ist. Wenn es ganz aussichtslos ist, sind wir
nicht verpflichtet, die Zurechtweisung vorzunehmen, aber wir dürfen
sie vornehmen. Es ist eine Empfehlung, sie besteht weiter. Aber die Pflicht
zessiert wohl, jedenfalls nach der Meinung der meisten Moraltheologen,
wenn kein günstiger Erfolg zu erhoffen ist. Das gilt aber nur für
die private Zurechtweisung. Vorgesetzte müssen die Zurechtweisung
auch dann üben, wenn kein Erfolg zu hoffen ist, denn die Zurechtweisung
gehört zu den Pflichten des Amtes. Es gibt auch eine Pflicht, Schuldige
unentschuldbar zu machen. Jawohl, die gibt es, eine Pflicht, Schuldige
unentschuldbar zu machen. Das steht sogar in der Heiligen Schrift. Im Römerbrief
weist der heilige Paulus an zwei Stellen darauf hin, dass Gott sich den
Menschen durch seine Naturoffenbarung gezeigt, geoffenbart hat und dass
er sie dadurch unentschuldbar macht. Sie können nicht sagen, sie haben
nichts von ihm gewußt. Er hat sich ihnen geoffenbart. Menschen, die
Kirche, müssen an dieser Aufgabe teilnehmen, Gottes Herold sein, und
Menschen, die schuldig geworden sind, unentschuldbar zu machen. Als der
Bischof von Münster, Graf von Galen, im Jahre 1941 seine Stimme erhob
gegen die Tötung von Geisteskranken, da konnte er auf Erfolg seiner
öffentlichen Anklage kaum hoffen. Und doch hat er sie nicht unterlassen.
Tatsächlich ging auch die Aktion weiter, nur dann im Geheimen. Es
wurden weiter Geisteskranke gemordet. Aber Galen hat den Unschuldigen eine
Stimme verliehen, und er hat die Schuldigen unentschuldbar gemacht.
Damit die Zurechtweisung zur Pflicht wird, muss die Notwendigkeit
des brüderlichen Einschreitens zum Zweck der Besserung vorhanden sein.
Wenn der Fehlende selbst auf seine Fehler aufmerksam wird, oder wenn andere
diese Aufgabe übernehmen, dann dürfen wir uns davon entschuldigt
halten. Wenn Personen, die näher stehen, diese Aufgabe übernehmen,
die ja ebenso wie wir und noch mehr zur Mahnung gerufen sind, dann dürfen
wir die Zurechtweisung unterlassen. Aber häufig ist niemand da, der
die undankbare Aufgabe der Zurechtweisung auf sich nimmt. Man will sich
mit niemand
anlegen, man möchte friedlich und harmonisch mit allen zusammenleben.
Und um das zu erreichen, schweigt man zu Fehlern und Fehltritten des anderen.
Deswegen stellt sich für den katholischen, für den gewissenhaften
katholischen Christen häufig die Pflicht, die Notwendigkeit zur Zurechtweisung.
Die Moraltheologen sagen auch noch, dass nur dann eine Pflicht zur
Zurechtweisung besteht, wenn die Zurechtweisung moralisch möglich
ist. Was heißt das, moralisch möglich? Das heißt: Sie
muss zumutbar sein, sie darf für den Zurechtweisenden nicht eine allzu
schwere Last sein, sie darf ihn nicht zu viel kosten. Sie verpflichtet
ihn nicht zu außerordentlichen Opfern, aber die Entschuldigung darf
auch nicht zu weit gehen, denn eine gewisse Peinlichkeit und Scheu ist
bei jeder Zurechtweisung vorhanden. Was von dem Einzelnen gilt, das gilt
nicht von den Vorgesetzten. Vorgesetzte müssen tadeln, mahnen, warnen,
auch wenn dies zu ihrem Schaden ausschlägt. Die Machthaber bedrohen
ja diejenigen, die sie zurechtweisen. Johannes der Täufer büßte
seine Zurechtweisung mit dem Tode.
Wer Zurechtweisung vornimmt, sollte auch geneigt sein, sie anzunehmen.
Niemandem ist eine Zurechtweisung angenehm. Jedem ist sie peinlich, schmerzlich.
Aber es ist notwendig, Zurechtweisungen anzunehmen. Wir müssen uns
dazu stellen, wir brauchen die Einsicht, dass Zurechtweisungen notwendig
sind. Sie schützen uns vor Nachlässigkeit, vor dem Sichgehenlassen.
Wer uns zurechtweist, tut uns etwas Gutes. In der Heiligen Schrift des
Alten Bundes heißt es: „Ein kluger und gesitteter Mann murrt nicht,
wenn er zurechtgewiesen wird." Ein kluger und gesitteter Mann murrt nicht,
wenn er zurechtgewiesen wird. An einer anderen Stelle: „Wer Zurechtweisung
haßt, wandelt in den Spuren des Sünders. Wer aber Gott fürchtet,
nimmt sie sich zu Herzen." Wir haben im Alten Bunde ein hervorragendes
Beispiel der angenommenen Zurechtweisung. König David hatte die Begierde
nach einer schönen Frau, die aber einem anderen gehörte, dem
Urias. Der Urias stand im Felde, und der David war zu Hause. Er ließ
die Frau kommen, er verging sich mit ihr, sie wurde schwanger. Jetzt bekam
er es mit der Angst zu tun. Er ließ den Offizier Urias aus dem Felde
zurückrufen und befahl ihm, er solle in seine Gemächer gehen,
mit seiner Frau schlafen. Weit gefehlt. Der Urias sagte: „Meine Soldaten
draußen liegen im Felde, und ich soll ins Gemach gehen? Das tue ich
nicht." Der Versuch des Königs, seine Sünde zu verdecken, war
also gescheitert. Da griff er zu einem anderen Mittel. Er befahl dem Feldherrn
Joab, er solle den Urias an eine gefährliche Stelle des Kampfes stellen,
und dann solle man ihn allein lassen, damit die Feinde ihn töten.
So geschah es. David war also schuldig an dem Tode dieses Mannes. Da kam
anderen Tages der Prophet Nathan zu ihm und fragte, ob er ihm etwas unterbreiten
dürfe. „Ja". „Es war ein Mann", sagte er, „der hatte viele Schafe,
und ein anderer, der hatte nur ein einziges Schäflein, mit dem er
schlief und es war bei ihm in seiner Wohnung. Als der reiche Mann einen
Besuch bekam, da nahm er dem armen Mann das Schaf weg, um es dem Besuch
vorzusetzen." Der König war empört. „Wer ist dieser Mann?" „Das
bist du!" Und dann hielt er ihm sein Verbrechen vor. Das war Zurechtweisung
durch den Propheten Nathan. Der König ging in sich und sagte: „Ich
habe gesündigt." Die Zurechtweisung hatte gefruchtet.
Wenn wir Zurechtweisung üben, müssen wir es in der rechten
Ordnung tun, also gewöhnlich zuerst unter vier Augen. Zur vorgesetzten
Stelle dürfen wir nur gehen, wenn wir überzeugt sind, dass es
unbedingt notwendig ist, etwa um einem Verbrecher das Handwerk zu legen.
Die rechte Ordnung beginnt damit, dass man einen anderen unter vier Augen
zurechtweist. Und die Zurechtweisung muss in einer bestimmten Art erfolgen,
nämlich in Sanftmut und Geduld, in Demut und in der Kenntnis der eigenen
Schwäche, in kluger Wahl des geeigneten Augenblickes. Niemand hat
so gut die Weise der Zurechtweisung beschrieben wie eine große Frau
in unserer Kirche, nämlich die heilige Theresia von Avila. Sie war
ja selbst eine Vorgesetzte. „Bist du über andere gesetzt", so schreibt
sie, „so weise niemand im Zorne zurecht, sondern erst, wenn der Zorn vorüber
ist." Wer aus Zorn zurechtweist, der weckt eher Rache als Reue. Auch die
bittersten Wahrheiten können im Ton der Liebe gesagt werden. „Weise
niemand zurecht ohne Bescheidenheit, Demut und Selbstbeschämung."
Das letzte ist vielleicht das wichtigste. Damit ein Verweis Nutzen bringt,
muss es den Vorgesetzten etwas kosten, ihn zu erteilen. Man muss die Zurechtweisung
geben, ohne dabei im Herzen auch nur den Schatten einer Leidenschaft zu
haben. Der herbste Tadel läßt sich ertragen, wenn man fühlt,
dass derjenige, der tadelt, lieber loben möchte.
Es empfiehlt sich, vor der Zurechtweisung zu beten, zu beten, damit
unser Mund und das Herz des anderen von Gott, durch Gottes Gnade bereitet
werden. Die Pflicht und die Empfehlung der Zurechtweisung sind unaufgebbare
Bestandteile der katholischen Moral. Sie sind Mitarbeit am Seelenheil des
anderen. Und das ist das göttlichste aller göttlichen Werke,
mit Gott mitzuarbeiten am Seelenheil des Menschen.
(Quelle: "Erneuerung
in Christus", Heft Nr. 3/4-2019, S. 10-13 , Gaming)
- Salvator-Mundi-Verlag
- LINK