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 Ehrfurcht der Apostel vor der Mutter Jesu

FÜNFTES HAUPTSTÜCK

Ehrfurcht der Apostel vor der Mutter Jesu

Eines der größten Wunderwerke der göttlichen Allmacht war das Verhalten Mariae gegenüber den Aposteln und Jüngern. Jesus flößte seinen Jüngern eine besondere Andacht und Ehrfurcht gegen seine heiligste Mutter ein, da Maria in ihrer Gemeinschaft leben sollte. Diese ehrfurchtsvolle Liebe der Jünger wurde noch vermehrt durch die überaus liebevolle Freundlichkeit, die Maria im Verkehr mit den Jüngern an den Tag legte. Sie redete mit allen; sie liebte, tröstete, unterrichtete alle. Sie half ihren Nöten ab, und die Jünger schieden nie von ihr ohne innere Freude und Trost. Die Frucht dieser Gnaden war aber größer oder geringer, je nach der Gesinnung des Herzens, mit der jenes Saatkorn des Himmels aufgenommen worden war. (1079)
Alle Jünger bewunderten Maria wegen ihrer Klugheit, Weisheit, Heiligkeit, Reinheit und Majestät, die mit einer so milden und demütigen Freundlichkeit gepaart war, daß keiner Worte fand, um sie zu schildern. Das war zugleich eine Fügung des Allerhöchsten. Denn die Zeit war noch nicht gekommen, der Welt diese geistliche Arche des Neuen Bundes zu offenbaren. Gleichwie nun jemand, der ein heftiges Verlangen hat, sich auszusprechen, seine Gedanken aber nicht offenbaren kann, sich um so mehr innerlich damit beschäftigt, so wurden auch die Apostel unter dem süßen Zwang ihres Stillschweigens nur desto verbundener in der Liebe zur heiligsten Jungfrau und im innerlichen Lobe ihres Schöpfers. Vermöge ihrer unvergleichlichen Weisheit kannte Maria den Charakter, das Gnadenmaß, den Seelenzustand eines jeden der Apostel sowie das Amt, zu dem er bestimmt war. Dieser Kenntnis ensprechend richtete sie dann ihre Gebete, ihre Lehren, ihre Worte und Gnadenerweise nach dem Berufe eines jeden ein. Die heiligen Engel waren mit höchstem Staunen erfüllt, da sie sahen, wie ein bloßes Geschöpf sein Verhalten so vollkommen nach dem Wohlgefallen des Herrn einrichtete. Der Allmächtige bewirkte durch seine unsichtbare Leitung, daß die Apostel den Gnaden und Wohltaten, die sie von seiner Mutter empfingen, ihrerseits entsprachen. Und dies alles bildete eine den Menschen verborgene, nur den himmlischen Geistern sichtbare, himmlische Harmonie. (1080)
Petrus und Johannes waren besonders bevorzugt. Ersterer sollte der Stellvertreter Christi und das Haupt der streitenden Kirche werden, und Johannes sollte anstatt ihres göttlichen Sohnes als ihr Beschützer auf Erden bei ihr verbleiben. Diese beiden Apostel, deren Leitung die mystische Kirche, nämlich die heiligste Jungfrau, und die streitende Kirche, d.h. die Gemeinschaft der Gläubigen, anvertraut werden sollte, wurden von Maria mit Gnaden überhäuft. Johannes war auserwählt, ihr Adoptivsohn zu werden. Schon jetzt zeichnete er sich im Dienste Mariens aus. Denn er erfaßte die Geheimnisse dieser geistlichen Stadt Gottes in höherem Grade und erhielt durch sie ein reiches Licht über die Gottheit. Auch die Auszeichnung,
der Lieblingsjünger des Herrn zu sein, erlangte er durch seine Liebe zur seligsten Jungfrau Maria. (1081)
Sie liebte ihn wegen seiner jungfräulichen Reinheit, kindlichen Aufrichtigkeit, Demut und friedlichen Sanftmut. Er war öfter als die übrigen Apostel in ihrer Gesellschaft und diente ihr bei niedrigen Arbeiten im heiligen Wettstreit mit den Engeln. Johannes erstattete ihr auch mit größter Sorgfalt Bericht über alle Handlungen und Wunder Jesu, bei denen sie nicht zugegen war sowie über neue Jünger und alle, die seine Lehre angenommen hatten. Er war stets bedacht, der seligsten Jungfrau Freude zu bereiten und tat es dann nach bestem Wissen. (1082)
Johannes zeigte auch in seinen Worten die größte Ehrfurcht gegen Maria. War sie abwesend, so nannte er sie «die Mutter Jesu, unseres Meisters.» Nach der Himmelfahrt Christi gab er ihr zuerst den Titel: «Mutter Gottes, Mutter des Erlösers der Welt». Wenn er sie anredete, sagte er: «Mutter und Herrin.» Er gab ihr auch noch die Titel: «Sühnerin der Sünde, Herrin der Völker.» Johannes war es, der sie zuerst «Maria von Jesus» nannte. Er wußte, daß dieser Name ihrem Ohr und ihrem Herzen die lieblichste Harmonie bildete. Die anderen Apostel und Jünger kannten die Vorliebe der seligsten Jungfrau für den hl. Johannes und ersuchten ihn darum oft, in ihren Bitten und Anliegen Vermittler bei ihr zu sein. (1083)
Nächst Petrus und Johannes war auch Jakobus, der Bruder des Evangelisten, von Maria besonders geliebt. Auch Andreas war der seligsten Jungfrau recht teuer, da sie wußte, daß er eine ausgezeichnete Andacht zum Leiden und zum Kreuze seines Meisters tragen und wie dieser am Kreuze sterben werde. U.L. Frau hat mit wunderbarer Klugheit und Demut alle Apostel geliebt und hochgeschätzt wegen ihrer Tugenden und wegen ihres heiligsten Sohnes. Dies gilt auch von Magdalena. Maria schaute mit zärtlicher Zuneigung auf sie. Sie kannte die innige Liebe dieser Büßerin zu Jesus und die Stimmung ihres Herzens, die es der Allmacht Gottes ermöglichte, sich in ihr zu verherrlichen. U.L. Frau ging gern mit ihr um und erleuchtete sie über die erhabensten Geheimnisse. Dadurch wurde ihre Liebe zu Jesus und Maria immer größer. Die Heilige beriet sich auch mit Maria über ihr Verlangen, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und in beständiger Buße und Beschauung dem Herrn allein zu leben. U.L. Frau gab ihr eine erhabene Belehrung über diese Lebensweise, und Magdalena ging mit der Zustimmung und dem Segen der heiligsten Jungfrau für einige Zeit in die Wüste. Diese aber besuchte die heilige Büßerin einmal persönlich, und oft sandte sie ihr Engel, damit sie ihr Mut und Trost in ihre Einsamkeit brächten. Auch für die übrigen Frauen, die unserem Herrn folgten, hegte die göttliche Mutter große Liebe. Sie erwies ihnen außergewöhnliche Wohltaten. Alle waren ihr innigst ergeben und zugetan, und durch sie fanden sie Gnaden im Überfluß. (1084)
Über den schlechten Apostel Judas will ich einiges von dem mir Mitgeteilten berichten. Es wird den Sündern zur Lehre, den Verstockten zur Warnung, allen aber, die eine geringe Achtung zu Maria tragen, zur Mahnung dienen. Welcher Mensch wollte Maria nicht lieben, die von Gott mit unermeßlicher Liebe geliebt wird, die alle Engel, Apostel und Heiligen mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens liebten? Alle Kreaturen sollten sie in heiligem Wettstreite lieben. Sie würde auch dann noch zu wenig geliebt werden. Judas hat aber diesen königlichen Weg der Verehrung Mariens, der zur Liebe Gottes und zu seinen Gaben führt, nach und nach verloren. Folgendes ist mir hierüber mitgeteilt worden, damit ich es aufzeichne: (1085)
Judas trat in die Schule Christi, weil er äußerlich durch die Kraft der göttlichen Lehre, innerlich, wie die übrigen, vom guten Geiste angezogen wurde. Unter dem Einfluß dieser Gnaden bat er den Heiland um Aufnahme unter die Zahl seiner Jünger. Der Herr nahm ihn auf mit der Liebe eines Vaters, der keinen verstößt, der ihn aufrichtig sucht. Judas erhielt anfangs große Gnaden, durch die er sich auszeichnete und als einer der zwölf Apostel auserlesen wurde. Der Herr liebte ihn nach dem damaligen guten Stande seiner Seele und nach den heiligen Werken, die er wie die übrigen Apostel verrichtete. Auch Maria schaute damals mit Barmherzigkeit auf ihn, obwohl sie den Verrat voraussah. Doch verweigerte sie ihm deswegen ihre mütterliche Liebe und Fürsprache nicht. Vielmehr war sie um so aufmerksamer und eifriger um ihn besorgt, damit er für seine Missetat auch nicht eine scheinbare Entschuldigung vor den Menschen finde, falls er sie begehen sollte. Maria wußte, daß der Charakter des Judas durch Strenge nicht überwunden, sondern nur um so schneller zur Verstockung getrieben würde. Darum sorgte sie, daß ihm nie etwas Notwendiges oder Nützliches mangelte. Sie bewies ihm größere Liebe, half ihm mit aller Freundlichkeit, redete mit ihm und behandelte ihn mit größerer Milde und Sanftmut als die übrigen. Daher kam es, daß, wenn die Jünger manchmal unter sich stritten, wer von ihnen bei der Mutter Jesu am meisten in Gunst stehe, Judas immer außer Sorge war. Maria zeichnete ihn in den ersten Zeiten gar sehr mit Gnaden aus. Er legte auch seine Dankbarkeit für diese Gnaden an den Tag. (1086) Doch die natürlichen Anlagen waren bei Judas nicht sehr günstig. Da unter den Jüngern und Aposteln menschliche Fehler vorkamen, begann dieser törichte Jünger sich zuviel auf sich selbst einzubilden und an den Fehlern seiner Brüder zu straucheln. In dieser Verirrung, ohne an Besserung zu denken, wurde der Balken in seinem Auge um so größer, je mehr er in blindem Eigendünkel nur die Splitter in den Augen der anderen betrachtete (Ebd 6,41). Die leichteren Fehler seiner Brüder wollte er verbessern, während er selbst viel schwerere beging. So beurteilte und tadelte er unter den übrigen Aposteln besonders Johannes, als dränge sich dieser bei dem Herrn und dessen heiligster Mutter vor. Doch waren die bisherigen Unordnungen des Judas noch nicht über läßliche Sünden hinausgegangen. Er hatte die heiligmachende Gnade noch nicht verloren. Allein jene kleinen Fehler waren von schlimmer Art und vollkommen freiwillig. Er hatte dem ersten dieser Fehler, der eitlen Selbstgefälligkeit, ganz freiwillig Zutritt gegeben. Diesem folgte dann der zweite, der Neid. Aus ihm ging der dritte hervor, die lieblose Verurteilung seiner Brüder. Damit war größeren Fehlern die Türe geöffnet. Er wurde lau in der Andacht. Die Liebe zu Gott und den Menschen erkaltete. Das innere Licht nahm ab und erlosch allmählich. Er betrachtete die Apostel und die heiligste Mutter bereits mit einigem Unwillen und fand an ihrem Umgange und an ihren heiligsten Werken wenig Gefallen. (1087)
Maria durchschaute die ganzen Verirrungen des Judas. Sie wollte ihm helfen, ehe er dem Tode der Sünde verfiel. Deshalb ermahnte sie ihn eindringlich, wie eine Mutter ihren teuersten Sohn. Zwar legte sich manchmal der Sturm in seinem unruhigen Herzen. Doch blieb er nicht beharrlich, sondern geriet alsbald wieder in Verwirrung. Durch den Satan angetrieben, faßte er gegen Maria, die sanftmütigste Jungfrau, einen heftigen Zorn. Er suchte seine Fehler zu verbergen, zu leugnen oder zu entschuldigen, als ob er Jesus und Maria hätte täuschen und ihnen sein Herz verbergen könne. Er verlor die innere Ehrfurcht gegen die Mutter der Barmherzigkeit, verachtete ihre Ermahnungen und machte ihr sogar Vorwürfe wegen ihrer sanften Worte und Belehrungen. Durch diese Verwegenheit verlor er die Gnade. Der Herr wurde über ihn erzürnt und überließ ihn seinem eigenen Willen (Sirach 15,14). Indem Judas die Gnade und Fürsprache der seligsten Jungfrau Maria zurückstieß, verschloß er sich die Pforten der Barmherzigkeit und Rettung. Von der Abneigung gegen die Mutter Jesu ging er bald zum Zorn und Abscheu gegen seinen Meister über. Er war mit dessen Lehre unzufrieden und betrachtete das Leben der Apostel und den Umgang mit ihnen als etwas Lästiges. (1088)
Trotzdem verließ ihn die göttliche Vorsehung noch nicht. Sie verlieh ihm immer noch innerliche Gnaden, die zu seiner Rettung hingereicht hätten. Er aber benützte sie nicht. Maria versprach, ihn selbst zu ihrem Sohne zu führen, für ihn zu bitten und für seine Sünden Buße zu tun. Nur verlange sie von ihm, daß er seine Sünden bereue und sich bessere. Sie wußte, wie das größte Übel nicht darin besteht, daß man fällt, sondern darin, daß man nicht mehr aufsteht und in der Sünde verharrt. Judas erkannte seinen schlechten Seelenzustand. Aber er begann sich zu verhärten, fürchtete die Beschämung, die ihm doch zur Ehre gereicht hätte, und verfiel jener Scham, die seine Sünde steigerte. Aus Stolz nahm er den heilsamen Rat der Mutter Christi nicht an, sondern leugnete seine Schuld, versicherte mit heuchlerischen Worten, daß er seinen Meister und die Jünger liebe und daß er durchaus nichts zu bessern habe. (1089)
Wunderbar ist das Beispiel der Liebe und Geduld, das uns Jesus und Maria durch ihr Verhalten gegen Judas gegeben haben. Sie duldeten ihn in ihrer Gesellschaft, zeigten ihm nie eine unwillige Miene und behandelten ihn mit der gleichen Freundlichkeit wie die übrigen. Deshalb blieb sein schlechter Seelenzustand den Aposteln lange verborgen, obwohl sein gewöhnliches Verhalten im Verkehr mit andern sein böses Gewissen und seine schlimme innere Verfassung deutlich genug verriet. Alle sahen, mit welcher Freundlichkeit und Liebe er von Jesus und seiner heiligsten Mutter behandelt wurde. Darum schenkten sie den schlimmen Anzeichen seines Falles keinen Glauben und waren beim letzten Abendmahle, als Jesus sagte, einer von ihnen werde ihn verraten, alle bestürzt. Jeder fragte: «Bin ich es, Herr?» (Mt 26,22). Nur Johannes hatte einige Kenntnisse von den Vergehen des Judas und war darob in höchster Besorgnis. Darum teilte ihm der Herr das Geheimnis mit. Vorher aber hatte der Heiland nie eine Andeutung gegeben von dem, was in Judas vorging. Noch wunderbarer ist diese Geduld bei der heiligsten Jungfrau, weil sie Mutter des Herrn und ein bloßes Geschöpf war, und weil sie den Verrat des treulosen Jüngers ganz nahe wußte. (1090)
Wie ganz anders handeln wir Menschenkinder, wenn uns eine kleine Beleidigung zugefügt wird! Wie ungehalten sind wir über fremde Schwächen, während wir verlangen, daß alle die unsrigen ertragen! Wie schwer fällt es uns, eine Beleidigung zu verzeihen, da wir doch täglich bitten, der Herr möge uns die unsrigen vergeben! Wie schnell und grausam sind wir, die Fehler unserer Brüder bekanntzumachen, wie unwillig und emp­findlich dagegen, wenn jemand über die unsrigen nur ein Wort sagt! Niemand messen wir mit dem Maße, mit welchem wir wollen, daß uns gemessen würde. Nie wollen wir gerichtet werden, wie wir die anderen richten (Mt 7,12). Das alles ist Verkehrtheit, Finsternis und Gifthauch aus dem Munde des höllischen Drachen, der sich der ausgezeichneten Tugend der Liebe widersetzen und die Ordnung des menschlichen und göttlichen Rechtes umstoßen möchte. «Gott ist die Liebe», und wer die Liebe vollkommen übt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm (1 Jo 4,16). Luzifer dagegen ist Zorn und Rache, und wer diese ausübt, ist in ihm und wird von ihm geleitet in allen Vergehen, die dem Wohle des Nächsten widerstreiten. (1091)
Ich füge noch eine zweite Ursache an, warum Judas gefallen ist. Sobald die Zahl der Apostel und Jünger wuchs, bestimmte unser Herr, daß einer von ihnen sich damit befasse, die Almosen in Empfang zu nehmen und sie als Verwalter für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse und zum Zahlen der Steuer zu verwenden. Der göttliche Heiland wählte jedoch keinen im besonderen dazu aus, sondern stellte die Sache nur allen zugleich vor. Judas begehrte mit heftiger Begierde nach diesem Amte. Um zum Ziele zu gelangen, verdemütigte sich der gierige Jünger und bat Johannes, mit der seligsten Jungfrau zu sprechen, damit sie dies mit dem Herrn ausmache. Johannes entsprach dem Wunsche des Judas. Maria aber wußte, daß die Bitte weder gerecht noch heilsam sei und daß sie aus Stolz und Geldgier entspringe. Darum weigerte sie sich, sie dem göttlichen Meister vorzutragen. Judas bat nun Petrus und andere Apostel, doch vergebens. Gott wollte in seiner Güte die Übernahme des Amtes durch Judas verhindern oder wenigstens, falls er es zuließ, seine Sache rechtfertigen. Allein der Geiz, der das Herz des Judas bereits ganz eingenommen hatte, wurde durch diesen Widerstand nicht zur Ruhe gebracht und abgekühlt. Die Flamme dieser Leidenschaft loderte noch stärker auf. Satan schürte sie durch ehrgeizige Gedanken, die selbst für Personen eines anderen Standes ungeziemend gewesen wären. War die Einwilligung für andere strafbar, so noch viel mehr bei Judas. Er war ja ein Jünger in der Schule höchster Vollkommenheit und hatte Christus, «die Sonne der Gerechtigkeit», und Maria, «den Mond», vor Augen. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, welch schwere Schuld er auf sich lade, da sein göttlicher Meister ihm die leuchtende Gnadensonne war, und Maria, der «schöne Mond», ihm zeigte, was er zu tun habe, um sich von dem Gift der Schlange zu befreien. Allein Judas floh das Licht und übergab sich der Finsternis, und darum rannte er dem Abgrund zu. Er bat nun selbst die heiligste Jungfrau um das ersehnte Amt, indem er alle Scheu ablegte und seine Habgier unter dem Scheine der Tugend verbarg. Er sagte ihr, er habe jene Bitte durch Petrus und Johannes an sie stellen lassen aus Verlangen, ihr und ihrem Sohne mit aller Sorgfalt zu dienen; denn nicht alle nähmen sich dieser Sache mit dem gebührenden Fleiße an. Er bitte sie deshalb, sie möge ihm dieses Amt von seinem Meister erlangen. (1092) Maria antwortete ihm mit großer Sanftmut: «Bedenke wohl, mein Freund, was du verlangst, und prüfe, ob es dir heilsam ist, etwas zu begehren, was deine Brüder, die Jünger, fürchten und nur auf einen ausdrücklichen Befehl ihres Meisters annehmen würden. Der Herr liebt dich inniger, als du selbst dich liebst. Er weiß auch unfehlbar, was dir heilsam ist. Überlasse dich also seinem heiligsten Willen; ändere deinen Plan und trachte, die Schätze der Demut und Armut zu erwerben. Erhebe dich von deinem Falle; denn ich werde dir die Hand reichen, und mein Sohn wird dir seine liebevolle Barmherzigkeit erweisen.» Wen hätten so milde Worte, so kräftige Gründe aus dem Munde eines so himmlischen, so liebenswürdigen Wesens wie der seligsten Jungfrau nicht gerührt? Doch das unbändige, felsenharte Herz des Judas ließ sich nicht erweichen. Judas wurde vielmehr innerlich aufgebracht und glaubte, von der göttlichen Mutter, die ihm doch das Heilmittel für seine tödliche Krank­heit angeboten hatte, beleidigt worden zu sein. Wenn jemand aus Stolz und Geiz mit zügelloser Gier nach etwas verlangt, so wird auch bald der Zorn rege gegen jeden, der ihm hindernd in den Weg tritt. Heilsamer Rat gilt dann als Beleidigung. Maria, die sanftmütigste Jungfrau, blieb auf das unwürdige Gebaren des Judas hin voll Ruhe. Da er bereits verstockt war, redete sie für jetzt nicht weiter mit ihm. (1093) Sein Geiz ließ Judas keine Ruhe mehr. Er legte nicht nur alles natürliche Schamgefühl, sondern sogar den Glauben ab und beschloß, sich selbst an seinen göttlichen Meister zu wenden. Seinen Ingrimm berherrschend, trat er vor den Herrn und sprach als geschickter Bittsteller: «Meister, ich verlange, deinen Willen zu tun und dir als Bewahrer und Verwalter der Almosen, die wir empfangen, zu dienen. Ich werde damit den Armen helfen, gemäß deiner Lehre, dem Nächsten zu tun, was wir wünschen, daß man uns tue. Ich werde alles gut verwalten, ganz nach deinem Willen und besser, als dies bisher geschehen ist.» Judas beging bei dieser Heuchelei viele Sünden auf einmal. Er log, denn er hegte eine andere, verborgene Absicht. Sodann gab er sich als etwas aus, was er nicht war, da er nach unverdienter Ehre geizte. Er wollte nicht scheinen, was er wirklich war, und nicht sein, was er scheinen wollte. Überdies verleumete und schmähte er seine Mitbrüder, während er sich selbst lobte. Lauter Kunstgriffe, wie sie den Ehrgeizigen geläufig sind. Das Schlimmste aber war, daß er den eingegossenen Glauben verlor und seinen himmlischen Meister durch Heuchelei und Verstellung zu täuschen versuchte. Hätte er damals fest geglaubt, Christus sei ebenso wahrer Gott wie wahrer Mensch, so hätte er unmöglich daran gedacht, ihn täuschen zu können. Er hätte gewußt, daß Christus als Gott das Verborgenste seines Herzens nicht nur durch seine göttliche Allwissenheit, sondern auch als Mensch durch die eingegossene Wissenschaft und beseligende Anschauung erkenne. Allein, er glaubte all dieses nicht mehr. (1094) So bewahrheitete sich an Judas, was später der heilige Apostel sagte: «Die reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke des Teufels und in eitle, unnütze Begierden, welche die Menschen in den ewigen Tod stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Manche, die sich ihr ergeben, sind vom Glauben abgefallen und haben sich in viele Schmerzen verwickelt» (1 Tim 6,9,10). Die Habgier des Apostels Judas war um so gemeiner und verwerflicher, je lebendiger und wunderbarer das Beispiel der höchsten Armut Christi, seiner heiligsten Mutter und aller Apostel vor seinen Augen stand. Es gab nur einige mäßige Almosen. Judas bildete sich ein, infolge der großen Wunder seines Meisters und bei der Menge derer, die Ihm nachfolgten, würden die Almosen und Geschenke sich mit der Zeit mehren. Dann könne er sich manches davon aneignen. Aber es ging nicht nach seinem Wunsche, und darum wurde er selbst über jene ärgerlich, die dem Herrn nachfolgten, wie über Magdalena, als sie die kostbare Salbe über den Herrn ausgoß. Die Gier trieb ihn an, sie auf mehr als dreihundert Denare (Jo
12,5) zu schätzen und zu sagen, man entziehe diese den Armen. Um die Armen kümmerte er sich nicht. Besonders ungehalten war er über die Mutter der Barmherzigkeit, weil sie so viel Almosen gab, sowie über den Herrn, weil er nicht mehr Geschenke annahm, um sie ihm abzugeben, endlich über die Jünger und Apostel, weil sie nicht darum baten. Gegen alle zeigte er sich unwillig und verletzt. Einige Monate vor dem Tode Jesu fing er an, sich öfters von dem Herrn und den übrigen Aposteln zu entfernen, da er ihrer Gesellschaft überdrüssig war. Er kam nur, um soviel als möglich Almosen in Empfang zu nehmen. Satan gab ihm den Gedanken ein, mit seinem Meister vollständig zu brechen und Ihn den Juden zu überliefern.(1095) Aus der Antwort, die Jesus dem Judas auf seine Bitte um das Amt eines Verwalters gab, ersehen wir, wie geheimnisvoll und schrecklich die Gerichte Gottes sind. Der Herr wußte wohl, welche Gefahr für Judas in seiner Bitte lag, und daß der gierige Apostel sein ewiges Verderben suche. Davor wollte er ihn bewahren. Jesus sprach zu ihm: «Judas, weißt du auch, was du begehrst? Sei nicht so grausam gegen dich selbst, das Gift und die Waffen aufzusuchen, mit denen du dir den Tod geben kannst!» Judas entgegnete: «Meister, es ist mein Wunsch, dir zu dienen und meine Kräfte dem Besten deiner Versammlung zu widmen. Dies kann ich aber in jenem Amte besser als auf irgend eine andere Weise. Ich verspreche, es an nichts fehlen zu lassen.» Durch diese Hartnäckigkeit, mit der Judas die Gefahr liebte und suchte, rechtfertigte Gott seine Sache, wenn er zuließ, daß jener sich in die Gefahr begab und darin zugrundeging. Judas setzte dem Lichte Widerstand und Verstocktheit entgegen. Jesus hatte ihm Feuer und Wasser, Leben und Tod vorgelegt; er aber streckte seine Hand aus und wählte sein Verderben (Sirach 15,17). So war Gottes Gerechtigkeit gerechtfertigt und seine Barmherzigkeit verherrlicht, jene Barmherzigkeit, die oft den Judas eingeladen und an der Türe seines Herzens Einlaß begehrt hatte, während er sie zurückstieß, um den Satan einzulassen. Wer wird nicht mit Furcht und Schrecken erfüllt, wenn er betrachtet, daß ein Mensch, der in der Schule Jesu und Mariens auferzogen, durch die Milch ihrer Lehre genährt und des Anblickes ihrer Wunder gewürdigt worden war, in so kurzer Zeit aus einem heiligen Apostel und Wundertäter in einen Teufel, aus einem unschuldigen Lämmlein in einen blutdürstigen Wolf verwandelt wurde? Mit läßlichen Sünden hat Judas begonnen und ist von diesen zu den schwersten, schrecklichsten übergegangen. Er folgte dem Satan, der bereits vermutete, Christus, der Herr, sei Gott, und darum ließ der Satan den ganzen Zorn, den er gegen den Herrn gefaßt hatte, an diesem unglücklichen, von der kleinen Herde getrennten Jünger aus. Jetzt aber ist die Wut Luzifers noch größer, seit er erkannt hat, daß Christus wahrer Gott und Erlöser der Welt ist.
Was wird also eine Seele zu erwarten haben, die sich einem so unmenschlichen und grausamen Feinde überliefert, einem Feinde, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf unser ewiges Verderben gerichtet ist? (1096)

Lehre der Himmelskönigin
Meine Tochter, vernimm eine der wichtigsten Lehren für alle, die im sterblichen Fleische der Gefahr ausgesetzt sind, das höchste Gut zu verlieren. Denn darin, daß der Mensch sich angelegentlich um meine Fürsprache und gnädige Vermittlung bei Gott bewirbt und dabei die Gerichte des Allerhöchsten in kluger Weise fürchtet, besteht das wirksame Mittel, seine Seele zu retten und einen hohen Lohn in der ewigen Seligkeit zu erwerben. Unter den göttlichen Geheimnissesn, die mein heiligster Sohn seinem und meinem Lieblingsjünger Johannes in der Nacht des Abendmahles offenbarte, war auch dieses, daß er die Liebe des Herrn durch jene Liebe erworben habe, die er zu mir trug; daß dagegen Judas gefallen sei, weil er die Barmherzigkeit verachtete, die ich ihm bezeigte. Johannes erfuhr damals auch, was ich während des Leidens Jesu zu erdulden haben würde, und er erhielt vom Herrn den Auftrag, besondere Sorge für mich zu tragen. Meine Tochter, strebe nach einer hohen Reinheit, dann wirst du, wie Johannes, mein liebstes Kind sein und die teure, geliebte Braut meines Sohnes und Herrn. Das Beispiel des Judas dagegen und sein Verderben müssen dir zur Warnung und zum Ansporn dienen, dich meiner Liebe zu versichern. (1097) Noch ein Geheimnis sollst du wissen: Eine der schändlichsten und Gott dem Herrn am meisten verhaßten Sünden ist die Geringschätzung der Gerechten und Freunde der Kirche, ganz besonders aber, wenn man mich verachtet, die ich auserwählt bin, die Mutter Gottes und das Heil aller Menschen zu sein. Dem Herrn und den Heiligen des Himmels ist es verhaßt, wenn man die Feinde nicht liebt und sie verachtet. Wie wird es dann der Herr ertragen, wenn man seine teuersten Freunde schmäht! Der Haß gegen die Gerechten ist eines der Kennzeichen der Verworfenen. Richte niemand, am wenigsten jene, die dich belehren und zurechtweisen. Hänge dich an nichts Irdisches! Trachte nicht nach Ämtern, durch deren äußeren Schein sich manche den Kopf verwirren lassen. Beneide niemand um Ehre oder irdische Güter und bitte den Herrn um nichts anderes als um seine heilige Liebe und Freundschaft. Der Mensch ist voll blinder Leidenschaften. Hält er sie nicht im Zaume, so begehrt und erfleht er oft etwas, was ihm zum Verderben gereicht. Der Herr gewährt zuweilen diese Bitten zur Strafe für diese oder jene Sünden nach seinen geheimen Gerichten wie bei Judas. Manche erhalten ihre heißbegehrten zeitlichen Güter als Lohn für einige gute Werke, die sie verrichtet haben. So täuschen sich viele Kinder der Welt. Sie schätzen sich glücklich, wenn sie alles erhalten, was sie ihren irdischen Neigungen gemäß verlangen. Dies aber ist ihr Unglück; denn sie haben dann keinen ewigen Lohn zu erwarten, wie die Gerechten, welche die Welt verachtet haben. Diese müssen durch viele Trübsale, und der Herr läßt oft ihr Verlangen in zeitlichen Dingen unerhört, weil er sie vor der Gefahr bewahren will. Damit du nicht in solche Gefahr geratest, ermahne ich dich, ja befehle ich dir, niemals ein irdisches Gut zu verlangen. Reiße deinen Willen von allem los, bewahre ihm Freiheit und Herrschaft, befreie ihn von der Sklaverei der bösen Neigungen. Verlange nichts als den Willen des Allerhöchsten, denn seine Majestät trägt Sorge für jene, die sich seiner Vorsehung überlassen. (1098)

(Quelle: Maria von Agreda: "Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria", 1079 - 1098)



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