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FÜNFTES HAUPTSTÜCK
Ehrfurcht
der Apostel vor der Mutter Jesu
Eines der größten Wunderwerke der göttlichen Allmacht
war das Verhalten Mariae gegenüber den Aposteln und Jüngern.
Jesus flößte seinen Jüngern eine besondere Andacht und
Ehrfurcht gegen seine heiligste Mutter ein, da Maria in ihrer Gemeinschaft
leben sollte. Diese ehrfurchtsvolle Liebe der Jünger wurde noch vermehrt
durch die überaus liebevolle Freundlichkeit, die Maria im Verkehr
mit den Jüngern an den Tag legte. Sie redete mit allen; sie liebte,
tröstete, unterrichtete alle. Sie half ihren Nöten ab, und die
Jünger schieden nie von ihr ohne innere Freude und Trost. Die Frucht
dieser Gnaden war aber größer oder geringer, je nach der Gesinnung
des Herzens, mit der jenes Saatkorn des Himmels aufgenommen worden war.
(1079)
Alle Jünger bewunderten Maria wegen ihrer Klugheit, Weisheit,
Heiligkeit, Reinheit und Majestät, die mit einer so milden und demütigen
Freundlichkeit gepaart war, daß keiner Worte fand, um sie zu schildern.
Das war zugleich eine Fügung des Allerhöchsten. Denn die Zeit
war noch nicht gekommen, der Welt diese geistliche Arche des Neuen Bundes
zu offenbaren. Gleichwie nun jemand, der ein heftiges Verlangen hat, sich
auszusprechen, seine Gedanken aber nicht offenbaren kann, sich um so mehr
innerlich damit beschäftigt, so wurden auch die Apostel unter dem
süßen Zwang ihres Stillschweigens nur desto verbundener in der
Liebe zur heiligsten Jungfrau und im innerlichen Lobe ihres Schöpfers.
Vermöge ihrer unvergleichlichen Weisheit kannte Maria den Charakter,
das Gnadenmaß, den Seelenzustand eines jeden der Apostel sowie das
Amt, zu dem er bestimmt war. Dieser Kenntnis ensprechend richtete sie dann
ihre Gebete, ihre Lehren, ihre Worte und Gnadenerweise nach dem Berufe
eines jeden ein. Die heiligen Engel waren mit höchstem Staunen erfüllt,
da sie sahen, wie ein bloßes Geschöpf sein Verhalten so vollkommen
nach dem Wohlgefallen des Herrn einrichtete. Der Allmächtige bewirkte
durch seine unsichtbare Leitung, daß die Apostel den Gnaden und Wohltaten,
die sie von seiner Mutter empfingen, ihrerseits entsprachen. Und dies alles
bildete eine den Menschen verborgene, nur den himmlischen Geistern sichtbare,
himmlische Harmonie. (1080)
Petrus und Johannes waren besonders bevorzugt. Ersterer sollte der
Stellvertreter Christi und das Haupt der streitenden Kirche werden, und
Johannes sollte anstatt ihres göttlichen Sohnes als ihr Beschützer
auf Erden bei ihr verbleiben. Diese beiden Apostel, deren Leitung die mystische
Kirche, nämlich die heiligste Jungfrau, und die streitende Kirche,
d.h. die Gemeinschaft der Gläubigen, anvertraut werden sollte, wurden
von Maria mit Gnaden überhäuft. Johannes war auserwählt,
ihr Adoptivsohn zu werden. Schon jetzt zeichnete er sich im Dienste Mariens
aus. Denn er erfaßte die Geheimnisse dieser geistlichen Stadt Gottes
in höherem Grade und erhielt durch sie ein reiches Licht über
die Gottheit. Auch die Auszeichnung,
der Lieblingsjünger des Herrn zu sein, erlangte er durch seine
Liebe zur seligsten Jungfrau Maria. (1081)
Sie liebte ihn wegen seiner jungfräulichen Reinheit, kindlichen
Aufrichtigkeit, Demut und friedlichen Sanftmut. Er war öfter als die
übrigen Apostel in ihrer Gesellschaft und diente ihr bei niedrigen
Arbeiten im heiligen Wettstreit mit den Engeln. Johannes erstattete ihr
auch mit größter Sorgfalt Bericht über alle Handlungen
und Wunder Jesu, bei denen sie nicht zugegen war sowie über neue Jünger
und alle, die seine Lehre angenommen hatten. Er war stets bedacht, der
seligsten Jungfrau Freude zu bereiten und tat es dann nach bestem Wissen.
(1082)
Johannes zeigte auch in seinen Worten die größte Ehrfurcht
gegen Maria. War sie abwesend, so nannte er sie «die Mutter Jesu,
unseres Meisters.» Nach der Himmelfahrt Christi gab er ihr zuerst
den Titel: «Mutter Gottes, Mutter
des Erlösers der Welt». Wenn er sie anredete,
sagte er: «Mutter und Herrin.»
Er gab ihr auch noch die Titel: «Sühnerin
der Sünde, Herrin der Völker.» Johannes war
es, der sie zuerst «Maria von
Jesus» nannte. Er wußte, daß dieser Name
ihrem Ohr und ihrem Herzen die lieblichste Harmonie bildete. Die anderen
Apostel und Jünger kannten die Vorliebe der seligsten Jungfrau für
den hl. Johannes und ersuchten ihn darum oft, in ihren Bitten und Anliegen
Vermittler bei ihr zu sein. (1083)
Nächst Petrus und Johannes war auch Jakobus, der Bruder des
Evangelisten, von Maria besonders geliebt. Auch Andreas war der seligsten
Jungfrau recht teuer, da sie wußte, daß er eine ausgezeichnete
Andacht zum Leiden und zum Kreuze seines Meisters tragen und wie dieser
am Kreuze sterben werde. U.L. Frau hat mit wunderbarer Klugheit und Demut
alle Apostel geliebt und hochgeschätzt wegen ihrer Tugenden und wegen
ihres heiligsten Sohnes. Dies gilt auch von Magdalena. Maria schaute mit
zärtlicher Zuneigung auf sie. Sie kannte die innige Liebe dieser Büßerin
zu Jesus und die Stimmung ihres Herzens, die es der Allmacht Gottes ermöglichte,
sich in ihr zu verherrlichen. U.L. Frau ging gern mit ihr um und erleuchtete
sie über die erhabensten Geheimnisse. Dadurch wurde ihre Liebe zu
Jesus und Maria immer größer. Die Heilige beriet sich auch mit
Maria über ihr Verlangen, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen
und in beständiger Buße und Beschauung dem Herrn allein zu leben.
U.L. Frau gab ihr eine erhabene Belehrung über diese Lebensweise,
und Magdalena ging mit der Zustimmung und dem Segen der heiligsten Jungfrau
für einige Zeit in die Wüste. Diese aber besuchte die heilige
Büßerin einmal persönlich, und oft sandte sie ihr Engel,
damit sie ihr Mut und Trost in ihre Einsamkeit brächten. Auch für
die übrigen Frauen, die unserem Herrn folgten, hegte die göttliche
Mutter große Liebe. Sie erwies ihnen außergewöhnliche
Wohltaten. Alle waren ihr innigst ergeben und zugetan, und durch sie fanden
sie Gnaden im Überfluß. (1084)
Über den schlechten Apostel Judas will ich einiges von dem
mir Mitgeteilten berichten. Es wird den Sündern zur Lehre, den Verstockten
zur Warnung, allen aber, die eine geringe Achtung zu Maria tragen, zur
Mahnung dienen. Welcher Mensch wollte Maria nicht
lieben, die von Gott mit unermeßlicher Liebe geliebt wird, die alle
Engel, Apostel und Heiligen mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens liebten?
Alle Kreaturen sollten sie in heiligem Wettstreite lieben. Sie würde
auch dann noch zu wenig geliebt werden. Judas hat aber diesen königlichen
Weg der Verehrung Mariens, der zur Liebe Gottes und zu seinen Gaben führt,
nach und nach verloren. Folgendes ist mir hierüber mitgeteilt worden,
damit ich es aufzeichne: (1085)
Judas trat in die Schule Christi, weil er äußerlich durch
die Kraft der göttlichen Lehre, innerlich, wie die übrigen, vom
guten Geiste angezogen wurde. Unter dem Einfluß dieser Gnaden bat
er den Heiland um Aufnahme unter die Zahl seiner Jünger. Der Herr
nahm ihn auf mit der Liebe eines Vaters, der keinen verstößt,
der ihn aufrichtig sucht. Judas erhielt anfangs große Gnaden, durch
die er sich auszeichnete und als einer der zwölf Apostel auserlesen
wurde. Der Herr liebte ihn nach dem damaligen guten Stande seiner Seele
und nach den heiligen Werken, die er wie die übrigen Apostel verrichtete.
Auch Maria schaute damals mit Barmherzigkeit auf ihn, obwohl sie den Verrat
voraussah. Doch verweigerte sie ihm deswegen ihre mütterliche Liebe
und Fürsprache nicht. Vielmehr war sie um so aufmerksamer und eifriger
um ihn besorgt, damit er für seine Missetat auch nicht eine scheinbare
Entschuldigung vor den Menschen finde, falls er sie begehen sollte. Maria
wußte, daß der Charakter des Judas durch Strenge nicht überwunden,
sondern nur um so schneller zur Verstockung getrieben würde. Darum
sorgte sie, daß ihm nie etwas Notwendiges oder Nützliches mangelte.
Sie bewies ihm größere Liebe, half ihm mit aller Freundlichkeit,
redete mit ihm und behandelte ihn mit größerer Milde und Sanftmut
als die übrigen. Daher kam es, daß, wenn die Jünger manchmal
unter sich stritten, wer von ihnen bei der Mutter Jesu am meisten in Gunst
stehe, Judas immer außer Sorge war. Maria zeichnete ihn in den ersten
Zeiten gar sehr mit Gnaden aus. Er legte auch seine Dankbarkeit für
diese Gnaden an den Tag. (1086) Doch die natürlichen Anlagen waren
bei Judas nicht sehr günstig. Da unter den Jüngern und Aposteln
menschliche Fehler vorkamen, begann dieser törichte Jünger sich
zuviel auf sich selbst einzubilden und an den Fehlern seiner Brüder
zu straucheln. In dieser Verirrung, ohne an Besserung zu denken, wurde
der Balken in seinem Auge um so größer, je mehr er in blindem
Eigendünkel nur die Splitter in den Augen der anderen betrachtete
(Ebd 6,41). Die leichteren Fehler seiner Brüder wollte er verbessern,
während er selbst viel schwerere beging. So beurteilte und tadelte
er unter den übrigen Aposteln besonders Johannes, als dränge
sich dieser bei dem Herrn und dessen heiligster Mutter vor. Doch waren
die bisherigen Unordnungen des Judas noch nicht über läßliche
Sünden hinausgegangen. Er hatte die heiligmachende Gnade noch nicht
verloren. Allein jene kleinen Fehler waren von schlimmer Art und vollkommen
freiwillig. Er hatte dem ersten dieser Fehler, der eitlen Selbstgefälligkeit,
ganz freiwillig Zutritt gegeben. Diesem folgte dann der zweite, der Neid.
Aus ihm ging der dritte hervor, die lieblose Verurteilung seiner Brüder.
Damit war größeren Fehlern die Türe geöffnet. Er wurde
lau in der Andacht. Die Liebe zu Gott und den Menschen erkaltete. Das innere
Licht nahm ab und erlosch allmählich. Er betrachtete die Apostel und
die heiligste Mutter bereits mit einigem Unwillen und fand an ihrem Umgange
und an ihren heiligsten Werken wenig Gefallen. (1087)
Maria durchschaute die ganzen Verirrungen des Judas. Sie wollte
ihm helfen, ehe er dem Tode der Sünde verfiel. Deshalb ermahnte sie
ihn eindringlich, wie eine Mutter ihren teuersten Sohn. Zwar legte sich
manchmal der Sturm in seinem unruhigen Herzen. Doch blieb er nicht beharrlich,
sondern geriet alsbald wieder in Verwirrung. Durch den Satan angetrieben,
faßte er gegen Maria, die sanftmütigste Jungfrau, einen heftigen
Zorn. Er suchte seine Fehler zu verbergen, zu leugnen oder zu entschuldigen,
als ob er Jesus und Maria hätte täuschen und ihnen sein Herz
verbergen könne. Er verlor die innere Ehrfurcht gegen die Mutter der
Barmherzigkeit, verachtete ihre Ermahnungen und machte ihr sogar Vorwürfe
wegen ihrer sanften Worte und Belehrungen. Durch diese Verwegenheit verlor
er die Gnade. Der Herr wurde über ihn erzürnt und überließ
ihn seinem eigenen Willen (Sirach 15,14). Indem Judas die Gnade und Fürsprache
der seligsten Jungfrau Maria zurückstieß, verschloß er
sich die Pforten der Barmherzigkeit und Rettung. Von der Abneigung gegen
die Mutter Jesu ging er bald zum Zorn und Abscheu gegen seinen Meister
über. Er war mit dessen Lehre unzufrieden und betrachtete das Leben
der Apostel und den Umgang mit ihnen als etwas Lästiges. (1088)
Trotzdem verließ ihn die göttliche Vorsehung noch nicht.
Sie verlieh ihm immer noch innerliche Gnaden, die zu seiner Rettung hingereicht
hätten. Er aber benützte sie nicht. Maria versprach, ihn selbst
zu ihrem Sohne zu führen, für ihn zu bitten und für seine
Sünden Buße zu tun. Nur verlange sie von ihm, daß er seine
Sünden bereue und sich bessere. Sie wußte, wie das größte
Übel nicht darin besteht, daß man fällt, sondern darin,
daß man nicht mehr aufsteht und in der Sünde verharrt. Judas
erkannte seinen schlechten Seelenzustand. Aber er begann sich zu verhärten,
fürchtete die Beschämung, die ihm doch zur Ehre gereicht hätte,
und verfiel jener Scham, die seine Sünde steigerte. Aus Stolz nahm
er den heilsamen Rat der Mutter Christi nicht an, sondern leugnete seine
Schuld, versicherte mit heuchlerischen Worten, daß er seinen Meister
und die Jünger liebe und daß er durchaus nichts zu bessern habe.
(1089)
Wunderbar ist das Beispiel der Liebe und Geduld, das uns Jesus und
Maria durch ihr Verhalten gegen Judas gegeben haben. Sie duldeten ihn in
ihrer Gesellschaft, zeigten ihm nie eine unwillige Miene und behandelten
ihn mit der gleichen Freundlichkeit wie die übrigen. Deshalb blieb
sein schlechter Seelenzustand den Aposteln lange verborgen, obwohl sein
gewöhnliches Verhalten im Verkehr mit andern sein böses Gewissen
und seine schlimme innere Verfassung deutlich genug verriet. Alle sahen,
mit welcher Freundlichkeit und Liebe er von Jesus und seiner heiligsten
Mutter behandelt wurde. Darum schenkten sie den schlimmen Anzeichen seines
Falles keinen Glauben und waren beim letzten Abendmahle, als Jesus sagte,
einer von ihnen werde ihn verraten, alle bestürzt. Jeder fragte: «Bin
ich es, Herr?» (Mt 26,22). Nur Johannes hatte einige Kenntnisse
von den Vergehen des Judas und war darob in höchster Besorgnis. Darum
teilte ihm der Herr das Geheimnis mit. Vorher aber hatte der Heiland nie
eine Andeutung gegeben von dem, was in Judas vorging. Noch wunderbarer
ist diese Geduld bei der heiligsten Jungfrau, weil sie Mutter des Herrn
und ein bloßes Geschöpf war, und weil sie den Verrat des treulosen
Jüngers ganz nahe wußte. (1090)
Wie ganz anders handeln wir Menschenkinder, wenn uns eine kleine
Beleidigung zugefügt wird! Wie ungehalten sind wir über fremde
Schwächen, während wir verlangen, daß alle die unsrigen
ertragen! Wie schwer fällt es uns, eine Beleidigung zu verzeihen,
da wir doch täglich bitten, der Herr möge uns die unsrigen vergeben!
Wie schnell und grausam sind wir, die Fehler unserer Brüder bekanntzumachen,
wie unwillig und empfindlich dagegen, wenn jemand über die unsrigen
nur ein Wort sagt! Niemand messen wir mit dem Maße, mit welchem wir
wollen, daß uns gemessen würde. Nie wollen wir gerichtet werden,
wie wir die anderen richten (Mt 7,12). Das alles ist Verkehrtheit, Finsternis
und Gifthauch aus dem Munde des höllischen Drachen, der sich der ausgezeichneten
Tugend der Liebe widersetzen und die Ordnung des menschlichen und göttlichen
Rechtes umstoßen möchte. «Gott ist die Liebe», und
wer die Liebe vollkommen übt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm
(1 Jo 4,16). Luzifer dagegen ist Zorn und Rache, und wer diese ausübt,
ist in ihm und wird von ihm geleitet in allen Vergehen, die dem Wohle des
Nächsten widerstreiten. (1091)
Ich füge noch eine zweite Ursache an, warum Judas gefallen
ist. Sobald die Zahl der Apostel und Jünger wuchs, bestimmte unser
Herr, daß einer von ihnen sich damit befasse, die Almosen in Empfang
zu nehmen und sie als Verwalter für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse
und zum Zahlen der Steuer zu verwenden. Der göttliche Heiland wählte
jedoch keinen im besonderen dazu aus, sondern stellte die Sache nur allen
zugleich vor. Judas begehrte mit heftiger Begierde nach diesem Amte. Um
zum Ziele zu gelangen, verdemütigte sich der gierige Jünger und
bat Johannes, mit der seligsten Jungfrau zu sprechen, damit sie dies mit
dem Herrn ausmache. Johannes entsprach dem Wunsche des Judas. Maria aber
wußte, daß die Bitte weder gerecht noch heilsam sei und daß
sie aus Stolz und Geldgier entspringe. Darum weigerte sie sich, sie dem
göttlichen Meister vorzutragen. Judas bat nun Petrus und andere Apostel,
doch vergebens. Gott wollte in seiner Güte die Übernahme des
Amtes durch Judas verhindern oder wenigstens, falls er es zuließ,
seine Sache rechtfertigen. Allein der Geiz, der das Herz des Judas bereits
ganz eingenommen hatte, wurde durch diesen Widerstand nicht zur Ruhe gebracht
und abgekühlt. Die Flamme dieser Leidenschaft loderte noch stärker
auf. Satan schürte sie durch ehrgeizige Gedanken, die selbst für
Personen eines anderen Standes ungeziemend gewesen wären. War die
Einwilligung für andere strafbar, so noch viel mehr bei Judas. Er
war ja ein Jünger in der Schule höchster Vollkommenheit und hatte
Christus, «die Sonne der Gerechtigkeit», und Maria, «den
Mond», vor Augen. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, welch schwere
Schuld er auf sich lade, da sein göttlicher Meister ihm die leuchtende
Gnadensonne war, und Maria, der «schöne Mond», ihm zeigte,
was er zu tun habe, um sich von dem Gift der Schlange zu befreien. Allein
Judas floh das Licht und übergab sich der Finsternis, und darum rannte
er dem Abgrund zu. Er bat nun selbst die heiligste Jungfrau um das ersehnte
Amt, indem er alle Scheu ablegte und seine Habgier unter dem Scheine der
Tugend verbarg. Er sagte ihr, er habe jene Bitte durch Petrus und Johannes
an sie stellen lassen aus Verlangen, ihr und ihrem Sohne mit aller Sorgfalt
zu dienen; denn nicht alle nähmen sich dieser Sache mit dem gebührenden
Fleiße an. Er bitte sie deshalb, sie möge ihm dieses Amt von
seinem Meister erlangen. (1092) Maria antwortete ihm mit großer Sanftmut:
«Bedenke wohl, mein Freund, was du verlangst, und prüfe, ob
es dir heilsam ist, etwas zu begehren, was deine Brüder, die Jünger,
fürchten und nur auf einen ausdrücklichen Befehl ihres Meisters
annehmen würden. Der Herr liebt dich inniger, als du selbst dich liebst.
Er weiß auch unfehlbar, was dir heilsam ist. Überlasse dich
also seinem heiligsten Willen; ändere deinen Plan und trachte, die
Schätze der Demut und Armut zu erwerben. Erhebe dich von deinem Falle;
denn ich werde dir die Hand reichen, und mein Sohn wird dir seine liebevolle
Barmherzigkeit erweisen.» Wen hätten so milde Worte, so kräftige
Gründe aus dem Munde eines so himmlischen, so liebenswürdigen
Wesens wie der seligsten Jungfrau nicht gerührt? Doch das unbändige,
felsenharte Herz des Judas ließ sich nicht erweichen. Judas wurde
vielmehr innerlich aufgebracht und glaubte, von der göttlichen Mutter,
die ihm doch das Heilmittel für seine tödliche Krankheit
angeboten hatte, beleidigt worden zu sein. Wenn jemand aus Stolz und Geiz
mit zügelloser Gier nach etwas verlangt, so wird auch bald der Zorn
rege gegen jeden, der ihm hindernd in den Weg tritt. Heilsamer Rat gilt
dann als Beleidigung. Maria, die sanftmütigste Jungfrau, blieb auf
das unwürdige Gebaren des Judas hin voll Ruhe. Da er bereits verstockt
war, redete sie für jetzt nicht weiter mit ihm. (1093) Sein Geiz ließ
Judas keine Ruhe mehr. Er legte nicht nur alles natürliche Schamgefühl,
sondern sogar den Glauben ab und beschloß, sich selbst an seinen
göttlichen Meister zu wenden. Seinen Ingrimm berherrschend, trat er
vor den Herrn und sprach als geschickter Bittsteller: «Meister, ich
verlange, deinen Willen zu tun und dir als Bewahrer und Verwalter der Almosen,
die wir empfangen, zu dienen. Ich werde damit den Armen helfen, gemäß
deiner Lehre, dem Nächsten zu tun, was wir wünschen, daß
man uns tue. Ich werde alles gut verwalten, ganz nach deinem Willen und
besser, als dies bisher geschehen ist.» Judas beging bei dieser Heuchelei
viele Sünden auf einmal. Er log, denn er hegte eine andere, verborgene
Absicht. Sodann gab er sich als etwas aus, was er nicht war, da er nach
unverdienter Ehre geizte. Er wollte nicht scheinen, was er wirklich war,
und nicht sein, was er scheinen wollte. Überdies verleumete und schmähte
er seine Mitbrüder, während er sich selbst lobte. Lauter Kunstgriffe,
wie sie den Ehrgeizigen geläufig sind. Das Schlimmste aber war, daß
er den eingegossenen Glauben verlor und seinen himmlischen Meister durch
Heuchelei und Verstellung zu täuschen versuchte. Hätte er damals
fest geglaubt, Christus sei ebenso wahrer Gott wie wahrer Mensch, so hätte
er unmöglich daran gedacht, ihn täuschen zu können. Er hätte
gewußt, daß Christus als Gott das Verborgenste seines Herzens
nicht nur durch seine göttliche Allwissenheit, sondern auch als Mensch
durch die eingegossene Wissenschaft und beseligende Anschauung erkenne.
Allein, er glaubte all dieses nicht mehr. (1094) So bewahrheitete sich
an Judas, was später der heilige Apostel sagte: «Die
reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke des Teufels und
in eitle, unnütze Begierden, welche die Menschen in den ewigen Tod
stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Manche,
die sich ihr ergeben, sind vom Glauben abgefallen und haben sich in viele
Schmerzen verwickelt» (1 Tim 6,9,10). Die Habgier des Apostels
Judas war um so gemeiner und verwerflicher, je lebendiger und wunderbarer
das Beispiel der höchsten Armut Christi, seiner heiligsten Mutter
und aller Apostel vor seinen Augen stand. Es gab nur einige mäßige
Almosen. Judas bildete sich ein, infolge der großen Wunder seines
Meisters und bei der Menge derer, die Ihm nachfolgten, würden die
Almosen und Geschenke sich mit der Zeit mehren. Dann könne er sich
manches davon aneignen. Aber es ging nicht nach seinem Wunsche, und darum
wurde er selbst über jene ärgerlich, die dem Herrn nachfolgten,
wie über Magdalena, als sie die kostbare Salbe über den Herrn
ausgoß. Die Gier trieb ihn an, sie auf mehr als dreihundert Denare
(Jo
12,5) zu schätzen und zu sagen, man entziehe diese den Armen.
Um die Armen kümmerte er sich nicht. Besonders ungehalten war er über
die Mutter der Barmherzigkeit, weil sie so viel Almosen gab, sowie über
den Herrn, weil er nicht mehr Geschenke annahm, um sie ihm abzugeben, endlich
über die Jünger und Apostel, weil sie nicht darum baten. Gegen
alle zeigte er sich unwillig und verletzt. Einige Monate vor dem Tode Jesu
fing er an, sich öfters von dem Herrn und den übrigen Aposteln
zu entfernen, da er ihrer Gesellschaft überdrüssig war. Er kam
nur, um soviel als möglich Almosen in Empfang zu nehmen. Satan gab
ihm den Gedanken ein, mit seinem Meister vollständig zu brechen und
Ihn den Juden zu überliefern.(1095) Aus der Antwort, die Jesus dem
Judas auf seine Bitte um das Amt eines Verwalters gab, ersehen wir, wie
geheimnisvoll und schrecklich die Gerichte Gottes sind. Der Herr wußte
wohl, welche Gefahr für Judas in seiner Bitte lag, und daß der
gierige Apostel sein ewiges Verderben suche. Davor wollte er ihn bewahren.
Jesus sprach zu ihm: «Judas, weißt du auch, was du begehrst?
Sei nicht so grausam gegen dich selbst, das Gift und die Waffen aufzusuchen,
mit denen du dir den Tod geben kannst!» Judas entgegnete: «Meister,
es ist mein Wunsch, dir zu dienen und meine Kräfte dem Besten deiner
Versammlung zu widmen. Dies kann ich aber in jenem Amte besser als auf
irgend eine andere Weise. Ich verspreche, es an nichts fehlen zu lassen.»
Durch diese Hartnäckigkeit, mit der Judas die Gefahr liebte und suchte,
rechtfertigte Gott seine Sache, wenn er zuließ, daß jener sich
in die Gefahr begab und darin zugrundeging. Judas setzte dem Lichte Widerstand
und Verstocktheit entgegen. Jesus hatte ihm Feuer und Wasser, Leben und
Tod vorgelegt; er aber streckte seine Hand aus und wählte sein Verderben
(Sirach 15,17). So war Gottes Gerechtigkeit gerechtfertigt und seine Barmherzigkeit
verherrlicht, jene Barmherzigkeit, die oft den Judas eingeladen und an
der Türe seines Herzens Einlaß begehrt hatte, während er
sie zurückstieß, um den Satan einzulassen. Wer wird nicht mit
Furcht und Schrecken erfüllt, wenn er betrachtet, daß ein Mensch,
der in der Schule Jesu und Mariens auferzogen, durch die Milch ihrer Lehre
genährt und des Anblickes ihrer Wunder gewürdigt worden war,
in so kurzer Zeit aus einem heiligen Apostel und Wundertäter in einen
Teufel, aus einem unschuldigen Lämmlein in einen blutdürstigen
Wolf verwandelt wurde? Mit läßlichen Sünden hat Judas begonnen
und ist von diesen zu den schwersten, schrecklichsten übergegangen.
Er folgte dem Satan, der bereits vermutete, Christus, der Herr, sei Gott,
und darum ließ der Satan den ganzen Zorn, den er gegen den Herrn
gefaßt hatte, an diesem unglücklichen, von der kleinen Herde
getrennten Jünger aus. Jetzt aber ist die Wut Luzifers noch größer,
seit er erkannt hat, daß Christus wahrer Gott und Erlöser der
Welt ist.
Was wird also eine Seele zu erwarten haben, die sich einem so unmenschlichen
und grausamen Feinde überliefert, einem Feinde, dessen ganzes Sinnen
und Trachten auf unser ewiges Verderben gerichtet ist? (1096)
Lehre der Himmelskönigin
Meine Tochter, vernimm eine der wichtigsten Lehren für alle,
die im sterblichen Fleische der Gefahr ausgesetzt sind, das höchste
Gut zu verlieren. Denn darin, daß der Mensch sich angelegentlich
um meine Fürsprache und gnädige Vermittlung bei Gott bewirbt
und dabei die Gerichte des Allerhöchsten in kluger Weise fürchtet,
besteht das wirksame Mittel, seine Seele zu retten und einen hohen Lohn
in der ewigen Seligkeit zu erwerben. Unter den göttlichen Geheimnissesn,
die mein heiligster Sohn seinem und meinem Lieblingsjünger Johannes
in der Nacht des Abendmahles offenbarte, war auch dieses, daß er
die Liebe des Herrn durch jene Liebe erworben habe, die er zu mir trug;
daß dagegen Judas gefallen sei, weil er die Barmherzigkeit verachtete,
die ich ihm bezeigte. Johannes erfuhr damals auch, was ich während
des Leidens Jesu zu erdulden haben würde, und er erhielt vom Herrn
den Auftrag, besondere Sorge für mich zu tragen. Meine Tochter, strebe
nach einer hohen Reinheit, dann wirst du, wie Johannes, mein liebstes Kind
sein und die teure, geliebte Braut meines Sohnes und Herrn. Das Beispiel
des Judas dagegen und sein Verderben müssen dir zur Warnung und zum
Ansporn dienen, dich meiner Liebe zu versichern. (1097) Noch ein Geheimnis
sollst du wissen: Eine der schändlichsten und
Gott dem Herrn am meisten verhaßten Sünden ist die Geringschätzung
der Gerechten und Freunde der Kirche, ganz besonders aber, wenn man mich
verachtet, die ich auserwählt bin, die Mutter Gottes und das Heil
aller Menschen zu sein. Dem Herrn und den Heiligen des Himmels ist es verhaßt,
wenn man die Feinde nicht liebt und sie verachtet. Wie wird es dann
der Herr ertragen, wenn man seine teuersten Freunde schmäht! Der
Haß gegen die Gerechten ist eines der Kennzeichen der Verworfenen.
Richte niemand, am wenigsten jene, die dich belehren
und zurechtweisen. Hänge dich an nichts Irdisches! Trachte nicht nach
Ämtern, durch deren äußeren Schein sich manche den Kopf
verwirren lassen. Beneide niemand um Ehre oder irdische Güter und
bitte den Herrn um nichts anderes als um seine heilige Liebe und Freundschaft.
Der Mensch ist voll blinder Leidenschaften. Hält er sie nicht im Zaume,
so begehrt und erfleht er oft etwas, was ihm zum Verderben gereicht. Der
Herr gewährt zuweilen diese Bitten zur Strafe für diese oder
jene Sünden nach seinen geheimen Gerichten wie bei Judas. Manche erhalten
ihre heißbegehrten zeitlichen Güter als Lohn für einige
gute Werke, die sie verrichtet haben. So täuschen
sich viele Kinder der Welt. Sie schätzen sich glücklich, wenn
sie alles erhalten, was sie ihren irdischen Neigungen gemäß
verlangen. Dies aber ist ihr Unglück; denn sie haben dann keinen ewigen
Lohn zu erwarten, wie die Gerechten, welche die Welt verachtet haben.
Diese müssen durch viele Trübsale, und der Herr läßt
oft ihr Verlangen in zeitlichen Dingen unerhört, weil er sie vor der
Gefahr bewahren will. Damit du nicht in solche Gefahr geratest, ermahne
ich dich, ja befehle ich dir, niemals ein irdisches Gut zu verlangen. Reiße
deinen Willen von allem los, bewahre ihm Freiheit und Herrschaft, befreie
ihn von der Sklaverei der bösen Neigungen. Verlange nichts als den
Willen des Allerhöchsten, denn seine Majestät trägt Sorge
für jene, die sich seiner Vorsehung überlassen. (1098)
(Quelle: Maria von Agreda:
"Leben der jungfräulichen Gottesmutter Maria", 1079 - 1098)