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Von
der Stadt her hörte sie bereits wieder Schießen und Schreien
und wilden Aufruhr, die entfesselte Hölle! Da bog sie nach rechts
in den dichten Wald. Und dann war sie zwei Tage und Nächte auf der
Flucht durch den Böhmerwald geirrt zur Grenze. Alle paar Stunden war
sie auf streifende Gruppen der Russen und Tschechen gestoßen, hatte
sich in das Dickicht verkrochen, getrieben vom Grauen, von der Angst. Und
nun, da die Grenze endlich so nahe, waren diese da.
Als
sie aus ihrer Halbohnmacht erwachte, war es dunkel. Sie taumelte aus dem
Dickicht ins Freie. Kaum hundert Schritte entfernt, schimmerte die vom
Mondlicht überflutete Grenzlichtung durch die Bäume. Das Kind
wimmerte leise. Von links hörte sie verworrene Stimmen. Neue Angst
überflutete sie lähmend. Aber sie riß sich zusammen. Sie
mußte zu Menschen; ihr Kind war am Verhungern. Vorsichtig ging sie
an den Waldrand. Sie spähte nach allen Seiten: nichts! Da sammelte
sie ihr letztes Quentchen Kraft und raste den flachen Abhang hinab zur
kaum fünfzig Schritte entfernten Grenze, dem Bauernhof zu, den sie
sah. „Stoy!" „Steh!"
Wie
ein Blitzschlag traf sie dieser Ruf. Ein Schuß krachte. Es folgte
ein Knattern von Gewehrfeuer. Kugeln umpfiffen sie, und ein Dutzend Gestalten
stürmten auf sie zu. Laut keuchend - die Brust drohte ihr zu zerspringen
- hetzte sie in wahnsinnigen Sätzen der Grenze zu. Schon war einer
ihr so nahe, daß er die Hand nach ihr ausstreckte... "Maria
hilf!", schrie sie, „hilf,
hilf!"
Da
gellte hinter ihr ein Todesschrei. Ihr nächster Verfolger stürzte,
von einer ihr zugedachten Kugel getroffen...
Das
Feuer verstummte, die Verfolger blieben zurück. Fast besinnungslos
taumelte sie über die Grenze, dem Hofe zu. Keuchend, sich an der Klinke
festhaltend, pochte sie an die Tür. Die Bäuerin öffnete.
Fast fiel die Gehetzte ihr in die Arme. Aus dem Wohnzimmer trat der Bauer.
„Was ist..., was willst denn Du hier?" Verkniffen sah er sie an. „Milch!
Einen Tropfen Milch für mein Kind!" Sie bettelte: „Bitte, bitte!"-„Haben
keine!" war
die
Antwort. „Um der Gottesmutter willen, nur einen Tropfen!" flehte sie. „Nur
ein Tröpfchen fürs Kind; es stirbt vor Hunger! Zwei Tage bin
ich gelaufen vor Mördern und Frauenschändern und habe keinen
Bissen genossen... einen Tropfen nur meinem Kinde!" - „So, so! Zwei Tage
und zwei Nächte gelaufen? Hast wohl mächtig was ausgefressen?"
Und zur Türe weisend: „Fort! Euch kennt man!" — „Nicht, nicht!", stammelte
sie
erschrocken. „Einen Tropfen nur, nur einen Tropfen für mein Kind!"
Mit schreckhaft geweiteten Augen hob sie die gefalteten Hände bittend
empor.
„Raus,
mein Haus ist kein Heim für euch! Euch kennt man!" Er stieß
sie leicht an der Schulter zur Tür. Sie taumelte, stürzte über
die Schwelle und blieb ohnmächtig liegen. Mit dem Fuß rollte
er sie völlig hinaus; das Kind entfiel ihrem Arm und wimmerte leise.
Der Bauer schloß die Haustür und ging mit seiner Frau in die
Stube. „Wo käme man hin, wenn die da drüben sehen, daß
wir sie nehmen, die über die Grenze herüberkommen!"
Etwa
dreißig Schritte vom Grenzhof entfernt lag zu gleicher Zeit die Kriegerwitwe
Burgl Rott vor dem Muttergottesbild über ihrem Bett auf den Knien
und betete voll Inbrunst um Hilfe in ihrer Not. Ihr vor zwei Jahren in
Rußland gefallener Mann hatte ihr ein Büblein, das Häuschen,
sieben Tagwerk Acker und eine Kuh hinterlassen und eine auf den Besitz
eingetragene Hypothek, für die jährlich 380 Mark Zinsen und Abzahlung
zu leisten waren. Diesen Betrag brachte ihr bisher jedes Jahr die Kuh durch
den Buttergroschen und den Erlös für das geworfene Kalb. Den
Lebensunterhalt für sich und das Kind bestritt sie aus dem Ertrag
ihres Feldes, das sie mit Hilfe der Kuh bearbeitete, und aus dem Verkauf
von Eiern ihrer zwanzig Hühner. Eine Ziege gab zusätzlich Milch
für den Haushalt. Nun hatte die Kuh vor vier Wochen gekalbt und war
seither krank. Die letzten zwei Tage hatte sie keinen Halm mehr angerührt.
Da
lag die Burgl Jetzt auf den Knien vor dem Bild Unserer Lieben Frau und
rief sie um Hilfe an. Wenn nicht ein Wunder
geschah, war ihre Kuh morgen tot; sie konnte die Jahresrate nicht zahlen;
man würde ihr das Feld oder das Häuschen oder beides pfänden,
und sie müßte mit ihrem Söhnchen betteln gehen. Verzweifelt
sank ihr Haupt in die Polster des Bettes. Not und Sorge und Tränen
hatten sie so müde gemacht, daß sie überm Beten einschlummerte.
Da war ihr wie im Helltraum, als sähe sie die Gottesmutter aus dem
Rahmen des Bildes sich neigen und milde lächelnd ihr
über
den Scheitel streichen.
„Sorge
Dich nicht, alles wird gut", sagte die Himmelskönigin.
„Doch
geh zum Hof an der Grenze. Dort findest Du höchste Not. Handle in
meinem Namen!"
-
Sie schreckte empor... Das waren doch Schüsse und fernes Geschrei?!
Sie sah das Bild Unserer Lieben Frau an der Wand und dachte an den Traum.
Die Straße war leer, der Lärm und die Schüsse verstummt.
Ihr Kind schlief. Sie trat aus dem Haus. Vor dem Grenzhof hörte sie
Kinderwimmern. So fand sie die Unglücklichen. Rasch nahm sie das kleine
Bündel in den Arm, hob die Halbbewußtlose empor und führte
sie in ihre Hütte. Dort richtete sie dem Kindchen die Saugflasche
und stellte vor die Frau einen Topf Ziegenmilch und Schwarzbrot. Dann sah
sie ergriffen zu, wie ihre beiden Schützlinge die langentbehrte Nahrung
heißhungrig verzehrten. Nun legte sie die Fremde und deren Kind in
ihr eigenes Bett und richtete sich auf dem alten Sofa ein Lager. Voll Bangen
ging sie dann noch in den Stall, um nach dem kranken Tier zu sehen. Aber
die Kuh stand vor der Krippe und fraß eifrig an dem dort liegenden
Heu. Da hob die Frau voll Freude schluchzend die Hände: „Heilige
Jungfrau Maria, ich danke Dir!"
Am nächsten Morgen berichtete die junge Frau das grauenhafte Geschehen
jenseits der Grenze und ihr eigenes furchtbares Erleben.
Entsetzt
hörte die Burgl zu. Dann nahm sie die Hände der Unglücklichen:
„Gräm dich nicht zu sehr um die Zukunft! Du bleibst mit deinem Kind
bei mir, solange es Dir gefällt. Wenn ich auch nur armselig lebe,
für dich und dein Mädchen wird es schon langen!"
Kurz
vor Mittag hörte man an der Grenze fremdsprachiges Geschrei. Schüsse
krachten. „Die Russen?!" - Die Burgl sah ihren Schützling fragend
an. Diese nickte mit wachsbleichem Gesicht. Sie konnten in ihrer Todesangst
nur beten. Bald hörten sie schwere Schritte; ein halbes Dutzend Russen
näherten sich von der Straße dem kleinen Hof. Zitternd fielen
die beiden Frauen vor dem Bilde über dem Bett in die Knie: „Wenn Maria
nicht hilft, dann...!"
Die
Russen waren am Hofe angelangt, da zuckte der Anführer zurück
und starrte wie gebannt auf die Haustür. Wie abwehrend hob er die
Hände. Die Frau stieß einen Schrei aus. Sie hatte ihn erkannt:
„Er, er hat meinen Mann ermordet."
Zitternd
und ohne jede Hoffnung blickten die beiden Frauen durch die Gardinen in
den Hof. Da breitete der Anführer die Arme nach hinten aus, die Nachfolgenden
blieben stehen. Wie verzaubert starrten sie auf die Haustür. Das Staunen
in ihrem Gesicht wandelte sich, wich einer Verlegenheit, ging in Furcht
über. Und dann gingen sie - erst langsam, dann immer schneller - rückwärts,
die Augen immer auf die Haustür gerichtet. Plötzlich wandten
sie sich um und rannten, als hätte ein starker Gegner sie überrascht,
aus dem Hof, der Grenze zu und schrien: „Pani
Maruschka!" - „Frau
Maria!"
Nur
der Anführer blieb zurück. Er schien wie von einer Vision besiegt,
die ihm den Eintritt verwehrte.
Dann
sank er auf die Knie, beugte sich tief, bis sein Gesicht den Boden berührte.
So lag er minutenlang und stammelte slawische Worte. Dann öffnete
er seine Sacktasche, entnahm ihr ein Kästchen und legte es vor sich
auf den Boden. Nun stand er auf, hob die Hände, beugte sich nochmals
tief, bekreuzigte sich und schritt langsam, gesenkten Hauptes aus dem Hof,
seinen Genossen nach.
Fassungslos
fielen sich die beiden Frauen in die Arme. Was da draußen geschehen
war, wußten sie nicht. Nur das wußten sie, daß die Gottesmutter
es war, die sie gerettet hatte. Voll heißen Dankes stieg ihr „Ave
Maria" zum Himmel empor. Dann
traten sie auf den Hof. In der Schatulle erkannte die Arztgattin ihr von
den Russen geraubtes Eigentum, ihren Schmuck und ihre Ersparnisse. Zu ihrem
Schrecken aber sahen sie den Grenzbauernhof lichterloh in Flammen zusammenstürzen;
die Rinder und die Schweine aber trieb man jenseits der Grenze gegen Osten.
(Quelle:
Leseprobe aus: "Die schönsten Mariengeschichten" von Karl Maria Harrer,
Miriam-Verlag. Das Buch enthält 71 weitere Tatsachenberichte über
die Hilfe Mariens)
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