Thomas von Kempen - Nachfolge CHRISTI

Nachfolge CHRISTI
Thomas von Kempen

FÜNFTES KAPITEL
Das Lesen heiliger Schriften

In den heiligen Schriften ist Wahrheit zu suchen, nicht Beredsamkeit. Jede geistliche Schrift muss in dem Geiste gelesen werden, in dem sie geschrieben ist. Wir sollen in solchen Schriften mehr unseren Nutzen suchen als die Feinheit der Sprache. Ebenso gern müssen wir fromme und einfache Bücher lesen, wie erhabene und tiefsinnige. Nicht das Ansehen des Verfassers soll dich einnehmen, ob er mehr oder weniger gelehrt ist, sondern die Liebe zur reinen Wahrheit ziehe dich zum Lesen.
Frage nicht, wer dies gesagt hat; sondern achte darauf, was gesagt wird. Die Menschen vergehen; aber „die Wahrheit des Herrn bleibt in Ewigkeit" (Ps 116,2). Ohne Ansehen der Person redet Gott auf mancherlei Weise zu uns. Unser Vorwitz ist uns oft beim Lesen von Schriften hinderlich; wir wollen ergrübeln und begreifen, was wir in Einfalt hinnehmen sollten.
Willst du Nutzen daraus Ziehen, so lies mit Demut, Einfalt und gläubigem Sinn und wünsche nie, dadurch gelehrt zu werden.
Frage gern und horche still auf die Worte der Heiligen; auch lass dir die Gleichnisreden der Alten nicht missfallen, denn sie sind nicht ohne Grund überliefert.

SECHSTES KAPITEL
Die ungeordneten Neigungen

Sooft irgendeine Begierde des Menschen aus der Ordnung gerät, wird er in seinem Innern sogleich unruhig. Der Hochmutige und Geizige hat nie Ruhe; wer arm im Geist und von Herzen demütig ist, wandelt in der Fülle des Friedens. Ein Mensch, der sich selbst noch nicht völlig abgestorben ist, wird leicht versucht und strauchelt über die geringsten Kleinigkeiten. Ein ungeordneter Geist, der Lust und den Sinnen verhaftet, kann sich nur schwer von irdischen Begierden ganz befreien. Und darum wird er oft traurig, wenn er ihnen einmal entsagen muss; er wird auch leicht unwillig, wenn ihm jemand widersteht. Wenn er aber erlangt hat, was er begehrt, fühlt er sich sogleich von Gewissensschuld gedrückt, weil er seiner Leidenschaft gefolgt ist, die ihm nicht zu dem Frieden verhilft, den er suchte.
Der wahre Herzensfriede wird dadurch gefunden, dass man den Leidenschaften widersteht, nicht dadurch, dass man ihnen dient.
Darum ist kein Friede im Herzen des irdisch gesinnten Menschen, noch in einem Menschen, der in äusserer Betriebsamkeit aufgeht, sondern in dem, der mit Eifer dem Gesetze des Geistes dient.

SIEBENTES KAPITEL
Törichte Hoffnungen und Hoffart

Töricht ist, wer seine Hoffnung auf Menschen oder auf Geschöpfe setzt. Schäme dich nicht, anderen aus Liebe zu Jesus zu dienen und auf Erden gering zu erscheinen. Verlasse dich nicht auf dich selbst, sondern gründe deine Hoffnung auf Gott. Tu, was in deinen Kräften steht, und Gott wird deinem guten Willen beistehen. Vertraue nicht auf dein Wissen oder auf die Klugheit irgend eines Menschen, vielmehr auf die Gnade Gottes, der den Demütigen hilft und die Überheblichen demütigt. Rühme dich nicht des Reichtums, wenn du wohlhabend bist, noch der Freunde, weil sie Einfluss haben, sondern Gottes, der alles spendet und überdies danach verlangt, sich selbst dir hinzugeben.
Bilde dir nichts ein auf den Wuchs und die Schönheit deines Leibes; eine geringfügige Krankheit verunstaltet und zerstört sie.
Tu dir nichts zugute auf deine Geschicklichkeit oder Begabung, damit du nicht Gott missfällst, dem alles gehört, was du von Natur aus an Gutem hast. Halte dich nicht für besser als andere, damit du nicht etwa vor Gott, der das Innere des Menschen kennt, für schlechter giltst.
Sei nicht stolz auf deine guten Werke; Gott urteilt anders als die Menschen. Ihm missfallt oft, was den Menschen gefällt.
Wenn du etwas Gutes an dir hast, so glaube von anderen noch besseres, damit du die Demut bewahrst.
Es schadet nicht, wenn du dich allen nachsetzest, es schadet aber sehr viel, wenn du dich auch nur einem einzigen vorziehst.
Der Demütige hat beständigen Frieden; im Herzen des Hochmütigen aber wuchert oft Eifersucht und Zorn.
 

ACHTES KAPITEL
Allzugrosse Vertraulichkeit

„Nicht jedem Menschen offenbare dein Herz" (Sir 8,22), sondern mit einem Weisen und Gottesfürchtigen berate deine Anliegen.
Vermeide häufigen Umgang mit jungen und fremden Personen.
Schmeichle nicht den Reichen und erscheine nicht gerne vor den Grossen dieser Welt.
Geselle dich zu demütigen und schlichten Menschen, zu Frommen und Gutgesinnten, und rede mit ihnen von Dingen, die der Erbauung dienen.
Sei nicht vertraut mit einer Frau, sondern empfiehl Gott das ganze fromme Frauengeschlecht. Mit Gott allein und seinen Engeln wünsche vertraut zu sein, und meide die Bekanntschaft mit Menschen. Liebe muss man zu allen haben, aber Vertraulichkeit ist vom Übel.
Es kommt nicht selten vor, dass einer, der uns nicht näher bekannt ist, durch guten Ruf glänzt, aber bei persönlichem Umgang schwindet dieser vor den scharfen Augen des Beobachters. Wir meinen manchmal, anderen durch nähere Verbindung zu gefallen, fangen im Gegenteil aber an, ihnen durch unsere Fehler und Schwächen zu missfallen, die sie jetzt an uns wahrnehmen.
 

NEUNTES KAPITEL
Gehorsam und Unterwürfigkeit

Es ist etwas Grosses, im Gehorsam zu stehen, unter einem Vorgesetzten zu leben und nicht sein eigener Herr zu sein.
Viel sicherer ist es, Untergebener zu sein als Vorgesetzter. Viele stehen unter dem Gehorsam mehr aus Zwang als aus Liebe; diese haben viel Plage und murren leicht. Sie werden die Freiheit des Geistes nicht erlangen, wenn sie sich nicht ganz aus Liebe zu Gott unterwerfen. Laufe hierhin und dorthin; nirgends findest du Ruhe als in demütiger Unterwerfung unter die Leitung deines Obern. Viele sind enttäuscht worden, weil sie auf eine Versetzung oder andere Verhältnisse ihre Erwartungen setzten. Freilich handelt jeder gern nach seinem Sinn und fühlt sich mehr zu Gleichgesinnten hingezogen.
Aber wenn Gott in unserer Mitte ist, müssen wir auch manchmal unsere eigene Meinung um des lieben Friedens willen aufgeben. Wer ist so klug, dass er alles vollkommen durchschauen konnte? Vertraue also nicht zu viel auf deine Meinung, sondern höre auch gern die Meinung anderer.
Wenn deine Ansicht gut ist und du doch aus Liebe zu Gott nicht darauf bestehst und einem anderen folgst, dann wirst du ungleich grösseren Nutzen davon haben. Ich habe oft sagen hören, es sei sicherer, Rat zu hören und anzunehmen, als zu geben. Es mag sein, dass deine Meinung so gut ist wie die des anderen; allein anderen nicht zustimmen wollen, obschon Vernunft oder Sachlage es fordern, verrät Stolz und Eigensinn.
 

ZEHNTES KAPITEL
Unnütze Reden

Meide das Treiben der Menschen, soviel du kannst; denn es ist sehr schädlich, sich auf weltliche Handel einzulassen, auch wenn es in redlicher Absicht geschieht. Wir werden ja von der Eitelkeit schnell umstrickt und gefesselt. Ich wünschte, ich hatte öfter geschwiegen und ware den Menschen fern geblieben. Aber warum reden wir so gern und schwätzen miteinander, da wir doch so selten ohne Befleckung des Gewissens zum Stillschweigen zurückkehren?
Wir reden darum so gern, weil wir durch wechselseitiges Gespräch einander zu trösten suchen und unserm von so vielen Sorgen gequälten Herzen Luft machen mochten. Es ist uns höchst willkommen, über das zu sprechen und nachzusinnen, was wir sehr lieben und uns wünschen, oder was wir nangenehm finden. Aber leider oft vergeblich und nutzlos. Denn dieser äussere Trost verbaut den inneren, der nur von Gott kommen kann.
Darum lasst uns wachen und beten, dass die Zeit nicht unbenutzt verstreiche. Ist es erlaubt und nützlich, zu reden, so rede, was der Erbauung dient.
Die böse Gewohnheit und die Vernachlässigung unseres Strebens nach Vollkommenheit trägt viel dazu bei, dass wir unsere Zunge nicht im Zaume halten.
Eine ernste Unterhaltung über geistliche Dinge tragt indes nicht wenig zur geistlichen Vervollkommnung bei; besonders wenn sich Personen eines Sinnes und Geistes in Gott zusammenfinden.
 

ELFTES KAPITEL
Herzensfriede und Tugendeifer

Wir konnten viel Frieden haben, wenn wir uns nicht um das kümmerten, was andere reden und tun und was uns eigentlich gar nichts angeht.
Wie kann der lange in Frieden bleiben, der sich in fremde Sorgen einmischt, der äussere Zerstreuungen sucht, sich aber selten oder flüchtig innerlich sammelt? Selig, die in rechter Einfalt des Herzens leben; sie werden viel Frieden haben. Warum sind manche Heilige zu solcher Vollkommenheit und zu einer so hohen Beschauung gelangt?
Weil sie allen irdischen Begierden ganz abzusterben suchten und darum mit aller Kraft des Herzens Gott anhangen und ohne jede Fessel für ihr Heil wirken konnten. Wir sind zu sehr von den eigenen Leidenschaften eingenommen und haben zu viel Sorge um vergängliche Dinge.
Selten überwinden wir auch nur einen Fehler ganz und bemühen uns nicht, Tag für Tag besser zu werden; darum bleiben wir kalt und lau.
Wären wir uns selbst vollkommen abgestorben und unser Herz nicht in Irdisches verstrickt, dann könnten wir am Göttlichen Geschmack finden und von himmlischer Beschauung etwas erfahren.
Dies ist das einzige grosse Hindernis, dass wir von Leidenschaften und Begierden nicht frei sind und nicht ernst versuchen, den Weg der Heiligen zur Vollkommenheit zu betreten. Trifft uns auch nur ein kleines Missgeschick, so sind wir gleich niedergeschlagen und sehen uns nach menschlichem Trost um. Hatten wir den Mut, wie tapfere Männer im Kampf standzuhalten, so würden wir ganz sicher die Hilfe des Herrn vom Himmel über uns erscheinen sehen. Denn er ist ebenso bereit, uns beizustehen, wenn wir kämpfen und auf seine Gnade hoffen, wie er uns die Gelegenheit zum Kampfe gibt, damit wir siegen.
Wenn wir nur von gewissen äusserlichen Andachtsübungen einen Fortschritt im religiösen Leben erwarten, wird es mit unserer Frömmigkeit bald zu Ende sein. Legen wir doch die Axt an die Wurzel, dass wir von den Leidenschaften frei werden und so den Frieden des Herzens erlangen. Wenn wir in jedem Jahre nur einen Fehler ausrotteten, würden wir bald vollkommen werden.
Aber jetzt stellen wir oft gerade das Gegenteil fest, dass wir am Anfang unserer Bekehrung besser und reiner waren als viele Jahre nachher.
Der Eifer und der geistliche Fortschritt sollten täglich zunehmen; aber jetzt erscheint es schon als etwas Grosses, wenn jemand nur ein wenig von seinem ersten Eifer bewahrt. Würden wir uns im Anfang nur ein wenig Gewalt antun, dann könnten wir nachher alles mit Leichtigkeit und Freude vollbringen.
Es ist schwer, Gewohnheiten abzulegen, noch schwerer aber, gegen den eigenen Willen anzugehen. Wenn du jedoch das Kleine und Leichte nicht überwindest, wann wirst du das Schwere bewältigen?
Widerstehe deinen Neigungen im Anfang und lege die bösen Gewohnheiten ab, damit sie dich nicht allmählich in grössere Schwierigkeiten bringen.
Wenn du bedachtest, welch grossen Frieden du dir selbst und welche Freude du anderen durch dein gutes Verhalten bereiten konntest, dann wärest du, meine ich, mehr darum besorgt, Fortschritte im geistlichen Leben zu machen.
 

ZWÖLFTES KAPITEL
Der Nutzen des Leides

Es tut uns gut, dass uns bisweilen Unangenehmes und Lästiges begegnet. Wir kommen hierdurch zur Besinnung und erkennen, dass wir auf Erden in der Verbannung leben und auf nichts in der Welt unsere Hoffnung setzen dürfen. Es ist gut für uns, dass wir zuweilen Widerspruch erfahren und man übel und schlecht von uns denkt, auch wenn wir gut handeln und beste Absichten haben. Das verhilft uns zur Demut und bewahrt uns vor eitler Überheblichkeit. Denn, wenn wir bei den Menschen Geringschätzung und Misstrauen erfahren, dann wenden wir uns mehr Gott zu als dem Zeugen unserer inneren Gesinnung. Darum sollte der Mensch sich so fest an Gott halten, dass er nicht nötig hatte, viel Trost bei den Menschen zu suchen.
Wenn jemand, der guten Willens ist, bedrängt, versucht oder von unguten Gedanken geplagt wird, dann sieht er ein, wie sehr er Gott nötig hat, ohne den er nichts Gutes tun kann.
Dann ist er von Herzen traurig, seufzt und betet wegen der Plagen, die er leidet. Dann wird er des Lebens überdrüssig und wünscht den Tod herbei, um aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein. Dann erkennt er ganz klar, dass vollkommene Sicherheit und ungetrübter Friede in der Welt nicht bestehen kann.
(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 3 - 2014, S. 71 - 75, Innsbruck)

Vierzehntes Kapitel
Lass andere in Ruhe!

Richte dein Auge auf dich selbst und hüte dich, das Tun anderer zu richten. Wer andere richtet, macht sich vergebliche Arbeit, irrt sich oft und sündigt leicht; wer aber sich selbst richtet und erforscht, dessen Mühe ist allzeit erfolgreich. Wie uns eine Sache am Herzen liegt, so urteilen wir oft darüber; denn das richtige Urteil verlieren wir leicht aus Eigenliebe.
Wäre Gott jederzeit das lautere Ziel unseres Verlangens, würden wir nicht so leicht in Unruhe kommen, wenn uns etwas gegen den Sinn geht.
Aber oft ist etwas in uns verborgen oder wirkt auch von außen auf uns ein, was uns in gleicher Weise anzieht.
Viele suchen bei ihrem Tun und Lassen heimlich sich selbst und merken es nicht.
Sie scheinen auch in gutem Frieden zu sein, wenn eine Sache nach ihrem Wunsch und Sinn läuft.
Geht es aber anders, als sie wünschen, so werden sie schnell aufgeregt und missmutig. Aus gegensätzlichen Meinungen und Ansichten entspringen oft Misshelligkeiten unter Freunden und Mitbürgern, unter Ordensleuten und Frommen.
Eine alte Gewohnheit wird schwer aufgegeben, und niemand lässt sich gern wider seine eigene Meinung leiten.
Wenn du dich mehr auf deine Vernunft oder Betriebsamkeit als auf die siegreiche Kraft Jesu Christi verlässt, wirst du selten und nur sehr langsam ein erleuchteter Mensch, weil Gott will, dass wir uns ihm vollkommen unterwerfen und uns durch glühende Liebe über alle Vernunft erheben.
 

Fünfzehntes Kapitel
Nichts ohne Liebe!

Um nichts in der Welt und keinem Menschen zuliebe darf man etwas Böses tun; wohl aber soll man ein gutes Werk manchmal unterlassen oder auch gegen ein besseres austauschen, um einem Bedürftigen zu helfen.
Denn dadurch geht das gute Werk nicht verloren, sondern wird in ein besseres umgewandelt.
Ohne Liebe nützt das äußere Werk nichts. Alles aber, was aus Liebe geschieht, wie gering und unscheinbar es auch sein mag, bringt reiche Frucht.
Denn Gott sieht mehr auf den Grad der Liebe als auf das Werk, das einer verrichtet. Viel wirkt, wer viel liebt. Viel wirkt, wer recht wirkt.
Recht wirkt, wer mehr dem Allgemeinwohl als seinem Eigenwillen dient.
Oft scheint etwas Liebe zu sein und ist mehr sinnliche Zuneigung, weil Neigung, Eigenliebe, Hoffnung auf Vergeltung und Hang zur Bequemlichkeit im Spiele sind. Wer die wahre und vollkommene Liebe hat, der sucht in keiner Sache sich selbst, sondern verlangt nur danach, dass Gottes Ehre in allem geschehe. Er beneidet auch keinen, weil er nicht für sich allein Freude begehrt und auch nicht in sich selbst sich freuen will, sondern in Gott über alle Güter beseligt zu werden wünscht. Er schreibt keinem etwas Gutes zu, sondern führt es ganz auf Gott zurück. Von diesem Urquell geht alles aus, in diesem Endziel ist die selige Ruhe aller Heiligen gegründet. Wer nur einen Funken wahrer Liebe kitte, der würde wahrlich empfinden, dass alles Irdische voll Eitelkeit ist.

Sechzehntes Kapitel
Geduld mit der Umwelt

Was man an sich oder anderen nicht zu bessern vermag, soll man geduldig ertragen, bis Gott es anders fügt.
Denke nur, so sei es besser für deine Erprobung und Geduld, ohne die unsere Verdienste nicht hoch zu bewerten sind.
Du musst jedoch bei solchen Hindernissen beten, Gott möge dir gnädig beistehen, damit du sie mit Gelassenheit ertragen kannst.
Wenn jemand sich auf ein- oder zweimalige Ermahnung hin nicht belehren lässt, so streite nicht mit ihm, sondern stelle alles Gott anheim, damit sein Wille und seine Ehre bei all seinen Dienern gefördert werde; er weiß wohl das Böse zum Guten zu lenken. Bemühe dich, fremde Fehler und Schwächen in Geduld zu ertragen, weil auch du vieles an dir hast, was von anderen ertragen werden muss.
Wenn du dich selber nicht so machen kannst, wie du wünschest, wie wirst du einen anderen nach deinem Gefallen umschaffen können.
Andere wünschen wir gern vollkommen, und doch bessern wir die eigenen Fehler nicht.
Wir erwarten, dass andere streng zurechtgewiesen werden, und wollen uns selbst nicht zurechtweisen lassen.
Es missfällt uns, dass anderen so viel gestattet wird, und doch wollen wir uns selbst nichts versagt wissen, was wir wünschen. Andere wollen wir durch Satzungen eingeschränkt sehen, aber wir selbst lassen uns nicht im Geringsten einschränken. Dies zeigt deutlich: Selten beurteilen wir unsere Mitmenschen so wie uns selbst. Wenn wir alle vollkommen wären, was hätten wir dann noch von anderen für Gott zu leiden?
Nun aber hat Gott es so eingerichtet, dass einer des anderen Last tragen lerne! Denn keiner ist ohne Fehler, keiner ohne Bürde, keiner genügt sich selbst, keiner ist allein klug genug; wir müssen uns alle gegenseitig ertragen, trösten, stützen, unterweisen und ermahnen.
Wie tugendhaft aber jemand ist, das offenbart sich am besten in einer schwierigen Lage. Solche Gelegenheiten machen den Menschen nicht schwach, sie zeigen nur, wie er v/irklich ist.

Siebzehntes Kapitel
Im Kloster

Du musst dich selbst in vielem beherrschen lernen, wenn du in Frieden und Eintracht mit anderen leben willst.
Es ist nicht leicht, in einem Kloster oder in einer Gemeinschaft zu wohnen, klaglos zu leben und bis zum Tode treu auszuharren.
Selig, wer dort gut lebt und sein Leben selig endet.
Willst du im Guten feststehen und Fortschritte machen, so betrachte dich als einen Verbannten und Pilger auf Erden.
Du musst um Christi willen ein Tor werden, wenn du ein gottseliges Leben führen willst. Ordenskleid und Tonsur bedeuten wenig; sittliche Neugeburt und völlige Abtötung der Leidenschaften machen den wahren Ordensmann.
Wer etwas anderes sucht als einzig Gott und seiner Seele Heil, der wird nichts finden als Trübsal und Schmerz.
Auch der kann nicht lange Frieden behalten, der nicht bestrebt ist, der Geringste zu sein und sich allen zu unterwerfen.
Zum Dienen bist du gekommen, nicht zum Herrschen. Zu dulden und zu arbeiten, dazu - bedenke es wohl - bist du berufen, nicht zum Müßiggang und Schwatzen. Hier werden die Menschen erprobt wie Gold im Feuer.
Hier kann niemand bestehen, der sich nicht von ganzem Herzen Gott zuliebe verdemütigen will.
 

Achtzehntes Kapitel
Die heiligen Väter unser Vorbild

Betrachte die lebendigen Vorbilder der heiligen Väter, in denen wahre Vollkommenheit und Gottverbundenheit leuchtet, dann wirst du erkennen, wie unbedeutend und nichtssagend das ist, was wir tun.
Was ist unser Leben, wenn wir es mit dem ihrigen vergleichen! Die Heiligen und Freunde Christi dienten dem Herrn in Hunger und Durst, in Frost und Blöße, in Mühe und Plage, im Wachen und Fasten, in Gebet und heiliger Betrachtung, in mancherlei Verfolgung und Schmach.
Wie viele und schwere Leiden haben die Apostel, Märtyrer, Bekenner, Jungfrauen und alle übrigen erduldet, die Christi Fußstapfen folgten.
Sie haben ihre Seele in dieser Welt gehasst, um sie in der Ewigkeit zu besitzen.
Welch strenges, entsagungsvolles Leben haben die heiligen Väter in der Wüste geführt!
Welch anhaltende und schwere Versuchungen bestanden!
Wie oft sind sie vom bösen Feinde bedrängt worden, in wie vielen inbrünstigen Gebeten haben sie zu Gott gefleht!
Wie streng war ihre Enthaltsamkeit! Welch großen glühenden Eifer haben sie bei ihrer geistlichen Vervollkommnung gezeigt!
Welch starken Kampf führten sie zur Ausrottung ihrer Fehler, wie lauter und gradlinig war ihr Streben auf Gott gerichtet!
Ihr Tag war der Arbeit gewidmet, die Nacht dem Gebet; aber auch bei der Arbeit lie­ßen sie nicht vom innerlichen Gebet ab.
Ihre ganze Zeit verwendeten sie nützlich. Zum Umgange mit Gott schien ihnen jede Stunde zu kurz.
Über der Wonne der Beschauung wurde sogar die notwendige leibliche Erquickung vergessen.
Allen Reichtümern, Würden, Ehren, Freunden und Verwandten entsagten sie; sie wollten von der Welt nichts besitzen.
Kaum das zum Leben Notwendige gönnten sie sich, und es fiel ihnen schon schwer, auch nur im Notwendigen dem Leib dienen zu müssen. So waren sie an irdischen Gütern arm, aber sehr reich an Gnade und Tugend. Äußerlich litten sie Mangel, aber innerlich wurden sie durch die Gnade und den göttli­chen Trost erquickt.
Der Welt waren sie fremd, Gott aber nahe und vertraute Freunde. Sich selbst kamen sie wie nichts vor und dieser Welt verächtlich; aber in den Augen Gottes waren sie kostbar als seine geliebten Kinder.
Sie verharrten in wahrer Demut und lebten in einfältigem Gehorsam. Sie wandelten in Liebe und Geduld; so wurden sie täglich vollkommener und erlangten große Gnade bei Gott. Sie sind allen Ordensleuten ein Vorbild, und wir sollen uns mehr durch sie zum Fort­schreiten im Guten anregen als durch die Menge der Lauen zur Nachlässigkeit verleiten lassen.
Wie groß war der Eifer aller Ordensleute in der ersten Zeit ihrer heiligen Stiftung! Welch tiefe Andacht im Gebet, welch großer Wetteifer in der Tugend, welch strenge Zucht! Wie lebte in allen Ehrfurcht und Gehorsam gegen die Regel ihres Stifters! Noch jetzt bezeugen es die von ihnen hinterlassenen Spuren, dass es wahrhaft heilige und vollkommene Männer waren, die so wacker kämpfend die Welt überwunden haben. Heutzutage gilt jemand schon als vollkommen, wenn er die Ordenssatzungen nicht übertritt, wenn er das, was er auf sich genommen hat, in Geduld tragen kann. Wie beklagenswert ist die Lauigkeit und Nachlässigkeit in unserem Stande, dass wir so schnell vom ersten Eifer abweichen und uns vor Erschlaffung und Lauheit schon Über-druss am Leben überkommt.
Möchte doch in dir, nachdem du so viele Beispiele gottseliger Menschen vor Augen gehabt hast, das Streben nach Tugenden nicht gänzlich einschlafen!
 

Neunzehntes Kapitel
Der wahrhaft gute Ordensmann

Das Leben eines guten Ordensmannes muss an allen Tugenden reich sein, damit er in­nerlich so sei, wie er äußerlich den Menschen erscheint.
Ja, er soll innerlich viel mehr sein, als man äußerlich an ihm wahrnimmt. Denn Gott ist es, der uns ins Herz schaut! Ihn müssen wir, wo wir auch sein mögen, aufs Höchste verehren, vor seinem Angesicht müssen wir wie Engel wandeln.
Jeden Tag sollen wir unseren Vorsatz erneuern und uns zum Eifer anregen, als ob wir uns gerade erst bekehrt hätten, und müssen beten:
Mein Herr und Gott, stehe mir bei in meinem guten Vorsatz und in Deinem heiligen Dienste! Gib mir heute die Gnade, mit größtem Ernst zu beginnen, weil das nichts ist, was ich bisher getan habe.
Unsere Fortschritte im Guten richten sich nach unserem Vorsatz, und wer kräftig fortschreiten will, muss größten Eifer aufwenden.
Wenn selbst einer, der sich etwas fest vornimmt, oft schwach wird, wieviel mehr, wer selten und nur lässig einen festen Vorsatz fasst.
Auf mancherlei Art werden wir unserem Vorsatze untreu, und schon eine geringe Unterlassung geht kaum ohne Schaden vorüber. Der Vorsatz der Gerechten gründet mehr in der Gnade Gottes als in der eigenen Weisheit; und was sie sich auch immer vornehmen, sie vertrauen allezeit auf Gott.
Denn der Mensch denkt, aber Gott lenkt, und der Mensch ist nicht Herr seines Weges. Wird eine gewohnte Übung bisweilen aus Liebe unterlassen oder um den Brüdern zu nutzen, so kann sie später leicht nachgeholt werden.
Wird sie aber aus innerem Überdruss oder aus Nachlässigkeit leichtfertig versäumt, so ist das strafbar genug, und der Schaden wird sich schon fühlbar machen. Bemühen wir uns, so viel wir können; wir machen ohnehin in vielem kleine Fehler. Immer jedoch müssen wir uns etwas Bestimmtes vornehmen, und besonders gegen das, was uns am meisten im Wege ist.
Unser Äußeres und Inneres müssen wir mit gleicher Strenge prüfen und ordnen, weil beides zum Fortschritt im Guten hilft.
Sammle dich, wenn du es nicht immer kannst, wenigstens zuweilen, wenigstens einmal täglich, wenn möglich morgens oder abends.
Am Morgen fasse deine Vorsätze, am Abend überdenke den Tageslauf, wie du heute in deinen Gedanken, Reden und Handlungen gewesen bist; vielleicht hast du dabei öfter gegen Gott und den Nächsten gesündigt.
Wappne dich wie ein Mann gegen die boshaften Angriffe des Teufels; zügle den Gaumen; dann wirst du um so leichter jede Sinneslust zügeln.
Sei niemals ganz müßig, sondern lies oder schreibe, bete, betrachte oder arbeite etwas zum Wohle der Gemeinschaft.
Körperliche Bußübungen sind jedoch mit Maß anzuwenden. Sie können auch nicht von allen in gleicher Art vorgenommen werden.
Übungen, die nicht gemeinschaftlich sind, soll man nicht vor jedermann zeigen; denn diese besonderen Übungen werden mit größerem Nutzen im Verborgenen angestellt. Hüte dich jedoch, dass du nicht für gemeinschaftliche Übungen träge, für private dagegen schnell bereit bist. Erfülle erst vollständig und treu die pflichtmäßig auferlegten Übungen, und wenn dir dann noch freie Zeit bleibt, magst du dich dir selbst widmen, wie die Gnade es dir eingibt.
Nicht jede Übung ist für alle angemessen; die eine passt mehr für diesen, die andere mehr für einen anderen.
Auch ein Wechsel der Übungen nach der Zeit ist praktisch; einige passen mehr zu Festtagen, andere zu Werktagen.
Dieser bedürfen wir zur Zeit der Versuchung, anderer in Zeiten des Friedens und der Ruhe. Manches überdenken wir gern, wenn wir traurig, anderes, wenn wir fröhlich sind. Um die Zeit der hohen Feste sind bewährte Übungen aufs Neue zu beginnen und die Heiligen eifriger um ihre Fürbitte anzurufen.
Von einem Fest zum anderen müssen wir die Vorsätze so fassen, als ob wir bis zum nächsten aus dieser Welt scheiden und zum ewigen Festtag gelangen würden. Darum sollen wir uns in den heiligen Zeiten sorgfältig vorbereiten, gottseliger wandeln und jede Vorschrift strenger beobachten, als wenn wir bald den Lohn unserer Arbeit von Gott empfangen würden.
Und wenn sich dies noch verzögert, so wollen wir denken, wir seien noch nicht genug vorbereitet, und noch unwürdig einer so großen Herrlichkeit, wie sie zur vorherbestimmten Zeit an uns soll offenbar werden, und wollen uns noch besser auf unsern Tod vorzubereiten suchen. „Selig der Knecht", heißt es beim Evangelisten Lukas, „den der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich ich sage euch, er wird ihn über alle seine Güter setzen" (Lk 12,43).
(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 1 - 2015, S. 7 - 12, Innsbruck)



Dreiundzwanzigstes Kapitel
Memento mori

Gar bald wird es hier um dich geschehen sein; sieh deshalb zu, wie es um dich steht. Heute lebt der Mensch, morgen ist er nicht mehr.
Entschwindet er aber erst aus den Augen, so schwindet er bald auch aus der Erinnerung. Wie blöde und abgestumpft ist doch das Menschenherz, dass es nur an die Gegenwart denkt und die Zukunft ganz vergisst.
Bei allem Denken und Tun solltest du dich so verhalten, als ob du heute sterben würdest. Hättest du ein gutes Gewissen, so würdest du den Tod nicht sonderlich fürchten. Besser ist es, die Sünde zu meiden, als vor dem Tod zu zittern.
Wenn du heute nicht bereit bist, wie sollst du es morgen sein? Das „Morgen" ist ungewiss, wie willst du überhaupt wissen, ob du dieses „Morgen" noch erlebst?
Was nützt es uns, lange zu leben, wenn wir uns so wenig bessern?
Ein langes Leben macht nicht immer besser, oft vergrößert es noch die Schuld.
Hätten wir doch nur einen Tag gut in dieser Welt verbracht!
Viele zählen die Jahre seit ihrer Umkehr, aber die Frucht der Lebensbesserung ist oft nur gering.
Ist es schrecklich zu sterben, so ist es vielleicht noch gefährlicher, länger zu leben. Glücklich, wer die Stunde seines Todes immer vor Augen hat und sich täglich zum Sterben bereithält.
Hast du jemals einen Menschen sterben sehen? Bedenke, dass auch du diesen Weg gehen musst. Zur Morgenstunde nimm an, dass du den Abend nicht erlebst. Ist es aber Abend geworden, so wage nicht, dir den andern Morgen zu versprechen. Sei also immer bereit und lebe so, dass der Tod dich niemals unvorbereitet findet. Viele sterben plötzlich und unversehens. Denn „der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr es nicht vermutet" (Lk 12, 40).
Wenn jene letzte Stunde gekommen ist, wirst du über dein ganzes vergangenes Leben ganz anders zu denken anfangen. Dann wirst du es sehr bedauern, so nachlässig und träge gewesen zu sein.
Wie glücklich und klug ist doch der Mensch, der sich bemüht, jetzt im Leben so zu sein, wie er im Tode befunden zu werden wünscht! Der darf getrost auf eine glückliche Sterbestunde hoffen, der die Welt gänzlich verachtet, aufrichtig nach Fortschritt in der Tugend verlangt, die innere Zucht liebt und die strenge Buße nicht scheut, einer, der willig Gehorsam leistet, sich selbst verleugnet und jede Widerwärtigkeit aus Liebe zu Christus auf sich nimmt.
In gesunden Tagen kannst du viel Gutes wirken; was du aber als Kranker zustande bringst, weiß ich nicht.
Wenige Menschen werden durch Krankheiten besser; ebenso werden die selten heilig, die viele Wallfahrten machen.
Verlass dich nicht auf Freunde und Verwandte, und baue dein Heil nicht auf die Ungewisse Zukunft; die Menschen vergessen dich schneller, als du denkst. Es ist besser, jetzt beizeiten vorzusorgen und ein gutes Werk vorauszuschicken, als auf fremde Hilfe zu hoffen.
Wenn du jetzt nicht für dich selbst sorgst, wird es in Zukunft kaum jemand tun.
Jetzt ist die Zeit sehr kostbar. „Jetzt sind die Tage des Heils, jetzt ist die gnadenreiche Zeit" (2 Kor 6,2).
Wie schade, dass du diese Zeit nicht besser anwendest, obgleich du dir jetzt das ewige Leben verdienen kannst.
Es kommt der Augenblick, wo du dir einen Tag oder eine Stunde wünschest, um dich bessern zu können, aber ich weiß nicht, ob sie dann noch gewährt wird. Lieber Freund! Von welcher Gefahr kannst du dich befreien und welcher Furcht entgehen, wenn du jetzt in Furcht lebst und den Tod vor Augen hast!
Bemühe dich jetzt, so zu leben, dass du in der Stunde des Todes eher Freude als Furcht empfindest.
Lerne jetzt der Welt absterben, um dann ein neues Leben mit Christus zu beginnen. Lerne jetzt alles verachten, um dann ungehindert zu Christus zu kommen. Züchtige jetzt deinen Leib durch die Buße, um dann sichere Zuversicht zu haben. Du Tor! Du denkst, noch lange zu leben. Dabei hast du hier doch keinen einzigen Tag sicher!
Wie viele haben sich getäuscht und sind unversehens aus diesem Leben hinweggerafft worden!
Wie oft hast du sagen hören: Der fiel durch das Schwert, der ertrank, der stürzte aus großer Höhe und brach das Genick, der erstickte beim Essen, der endete beim Spiel; der eine kam durch Feuer, der andere durch Eisen, der eine durch eine Seuche, der andere durch Raubmord um, und so ist das Ende aller der Tod, und flüchtig vergeht das Leben der Menschen wie ein Schatten.
Wer denkt nach dem Tode noch an dich, und wer wird für dich beten?
Wirke, wirke jetzt, lieber Freund, soviel du nur wirken kannst; denn du weißt nicht, wann du stirbst, auch nicht, was dir nach dem Tode bevorsteht.
Solange du Zeit hast, sammle dir unvergängliche Schätze. Denk nur an dein Seelenheil; sorge dich nur um das, was Gottes ist.
Mache dir jetzt Freunde, indem du die Heiligen Gottes verehrst und ihrem Tugendleben nachstrebst, damit sie dich, wenn du aus diesem Leben scheidest, „in die ewigen Wohnungen aufnehmen" (Lk 16,9).
Sei du stets wie ein Pilger und Fremdling auf Erden, den die Händel der Welt nichts angehen.
Halte dein Herz frei und stets nach oben, auf Gott gerichtet, weil du hier keine bleibende Stätte hast (vgl. Hebr 13,14).
Dorthin richte täglich deine Gebete, Tränen und Seufzer, damit deine Seele nach dem Tode gewürdigt werde, selig zum Herrn heimzufinden.
(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 3, Juli-Sept. 2015, S. 72f., Axams)

Vierundzwanzigstes Kapitel
Gericht und Vergeltung

Bei allem, was du tust, denke an das Ende! Wie wirst du vor dem strengen Richter bestehen, dem nichts verborgen bleibt, der sich durch Gaben nicht bestechen lässt und Entschuldigungen nicht annimmt, sondern nach der Gerechtigkeit richtet. Elender, törichter Sünder, was willst du Gott, der alle deine Sünden kennt, antworten, da du manchmal schon den Blick eines zornigen Menschen fürchtest? Warum siehst du dich nicht vor für den Tag des Gerichtes, an dem niemand durch einen anderen entschuldigt oder verteidigt werden kann, sondern jeder mit seiner eigenen Last genug hat.
Jetzt ist deine Arbeit noch fruchtbar, jetzt wird dein Flehen erhört, jetzt ist dein Reueschmerz Sühne und Läuterung.
Ein großes und heilsames Läuterungsmittel hat der Geduldige, der bei Beleidigungen mehr Schmerz empfindet über die Arglist des anderen als über die eigene Kränkung; der für seine Widersacher gern betet und ihnen von Herzen ihre Schuld vergibt; der nicht zögert, von anderen Verzeihung zu erbitten; der sich lieber erbarmt als zürnt. Der sich selbst oft Gewalt antut und das Fleisch dem Geiste gänzlich zu unterwerfen sucht.
Es ist besser, sich jetzt von Sünden zu reinigen und Laster auszurotten, als die Reinigung auf die Zukunft zu verschieben.
Wir täuschen uns nur selbst durch die ungeordnete Liebe, die wir zum Leib haben. Was anderes wird jenes Feuer verzehren als deine Sünden?
Je mehr du jetzt dich selbst schonst und der Sinnlichkeit nachgibst, umso härter wirst du einst büßen müssen, und umso mehr Brennstoff bewahrst du für das verzehrende Feuer auf.
Worin der Mensch gesündigt hat, darin wird er am härtesten gestraft werden.
Die Trägen werden dort mit glühenden Stacheln angetrieben und die Unmäßigen von grässlichem Hunger und Durst gequält werden.
Dort werden die Üppigen und Wollüstigen mit glühendem Pech und übelriechendem Schwefel übergossen und die Neidischen wie tolle Hunde vor Schmerz heulen. Jedes Laster wird seine eigene Qual haben.
Die Stolzen werden dort durch Beschämung jeder Art gedemütigt und die Habsüchtigen von der jämmerlichsten Armut gequält.
Dort wiegt eine Stunde der Pein schwerer als hier hundert Jahre der schwersten Buße. Dort gibt es keine Ruhe, keinen Trost für die Verdammten; wogegen man hier zuweilen von den Mühen ausruht und den Trost der Freunde genießt.
Sei hier wegen deiner Sünden in Sorge und bereue sie, damit du am Tage des Gerichtes mit den Seligen in Sicherheit bist.
Denn dann stehen die Gerechten in großer Zuversicht gegen jene, die sie bedrängt und bedrückt haben.
Dann steht als Richter auf, der sich jetzt demütig den Urteilen der Menschen unterwirft. Dann ist der Arme und Demütige voll Vertrauen, aber der Stolze muss jämmerlich verzagen.
Dann zeigt sich, dass der in dieser Welt klug war, der es gelernt hat, um Christi willen ein Tor und verachtet zu sein.
Dann findet jede geduldig ertragene Trübsal Anerkennung „und alle Bosheit verstummt" (Ps 106,42).
Dann freut sich jeder Fromme und jeder Gottlose härmt sich.
Dann frohlockt der Leib, der abgetötet wurde, mehr, als wäre er allezeit gepflegt und verweichlicht worden.
Dann leuchtet die ärmliche Tracht auf und die feine Kleidung verliert ihren Glanz.
Dann wird die kleine Hütte mehr gepriesen als der goldstrotzende Palast.
Dann hilft standhafte Geduld mehr als alle Macht der Welt.
Dann gilt der einfältige Gehorsam mehr als alle weltliche Klugheit.
Dann erfreut ein reines, gutes Gewissen mehr als gelehrte Weltweisheit.
Dann wiegt die Verachtung des Reichtums schwerer als alle Schätze der Erdenkinder.
Dann hast du von einem andächtigen Gebet mehr Trost als von einem leckeren Mahl.
Dann freust du dich über dein Schweigen mehr als über lange Plaudereien.
Dann gelten heilige Werke mehr als viele schöne Worte.
Dann macht ein strenges, in harter Buße verbrachtes Leben mehr Eindruck als alle irdische Lust.
Lerne jetzt im Kleinen Geduld üben, damit du dort vor Schwererem bewahrt bleibest. Hier erprobe schon, was du dereinst wohl auszuhalten vermagst. Wenn dir jetzt ein geringes Leiden schon zu schwer ist, wie wirst du dann die ewigen Qualen ertragen können? Wenn dich ein geringes Leiden jetzt so ungeduldig macht, wie wird dann die Hölle auf dich wirken?
Du kannst wirklich nicht zweifache Freude haben, hier die Freuden der Welt genießen und später mit Christus verherrlicht sein.
Hättest du bis zum heutigen Tage immer in Ehre und Genuss gelebt, was nützte dir das alles, wenn du jetzt auf der Stelle sterben müsstest?
Du siehst, alles ist Eitelkeit außer Gott lieben und ihm allein dienen. Wer Gott aus ganzem Herzen liebt, der braucht weder Tod noch Strafe zu fürchten, weder Gericht noch Hölle, weil die vollkommene Liebe sicheren Zutritt zu Gott bereitet. Findet aber jemand noch Freude an der Sünde, so ist es kein Wunder, dass er Tod und Gericht fürchtet.
Wenn dich aber die Liebe noch nicht vom Bösen abhält, dann ist es gut, dass wenigstens die Furcht vor der Hölle dich davor bewahrt. Wer aber die Furcht Gottes hintansetzt, der kann nicht lange im Guten bestehen, sondern gerät schon bald in die Fallstricke des Teufels.

Fünfundzwanzigstes Kapitel
Von Grund auf besser werden

Sei wachsam und eifrig im Dienste Gottes und bedenke oft: Wozu bist du gekommen und warum hast du die Welt verlassen? Doch sicher, um für Gott zu leben und ein geistlicher Mensch zu werden.
Bemühe dich also mit Feuereifer, besser zu werden; denn du wirst den Lohn deiner Mühen in kurzem empfangen, und es wird dich dann keine Furcht oder Schmerz mehr bedrücken.
Jetzt brauchst du nur ein wenig an dir zu arbeiten und findest dafür große Ruhe, ja immerwährende Freude.
Wenn du dich treu und eifrig bemühst, dann wird Gott dir ohne Zweifel treu und reich vergelten.
Du darfst Zuversicht haben, dass du zur Siegespalme gelangst; aber du darfst dich nicht in Sicherheit wiegen, damit du nicht lau oder hochmütig wirst.
Jemand wurde von Angst ergriffen und schwebte oft zwischen Furcht und Hoffnung. Einmal sank er, vor Gram erschöpft, in einer Kirche vor einem Altare nieder und dachte bei sich: Wenn ich doch wüsste, dass ich in Zukunft beharrlich sein würde! Sogleich vernahm er im Innern die Antwort Gottes: Was würdest du tun, wenn du dies wüsstest? Tue jetzt, was du dann tun wolltest, und du darfst vollkommen ruhig sein. Getröstet und gestärkt, überließ er sich dem göttlichen Willen, und die ganze Angst fiel von ihm ab. In Zukunft wollte er nicht mehr vorwitzig grübeln, um sein künftiges Los zu erfahren, sondern wollte mehr danach forschen, was Gottes Wille sei und wie er nach der Richtschnur des göttlichen Wohlgefallens jedes gute Werk anfangen und vollenden könne.
„Hoffe auf den Herrn und tue Gutes," sagt der Prophet, und „bewohne das Land und nähre dich von seinen Schätzen" (Ps 36,3).
Eines hält viele vom Fortschritt und von ernsthafter Besserung zurück: die Scheu vor der Schwere des Opfers, das der mühsame Kampf erfordert.
Aber gerade jene machen die größten Fortschritte in der Tugend, die gerade das mannhaft zu überwinden trachten, was ihnen am meisten Schwierigkeiten und Widerstand bereitet.
Denn eben da nimmt der Mensch im Guten zu und verdient sich reichere Gnaden, wo er sich selbst mehr überwindet und im Geiste abtötet.
Es haben aber nicht alle gleichviel zu überwinden und in sich abzutöten. Wer jedoch den rechten Tugendeifer hat, wird mehr Fortschritte machen können, auch wenn er mehr Leidenschaften zu bekämpfen hat, als ein anderer, der zwar gute Anlagen hat, dafür aber weniger Tugendeifer.
Zwei Dinge helfen besonders zu gründlicher Besserung: sich mit Gewalt dem entziehen, wozu die Natur sündhaft neigt, und eifrig nach dem Guten ringen, dessen einer am meisten bedarf.
Suche vor allem das zu meiden und zu überwinden, was dir bei anderen am meisten missfällt.
Sei überall darauf bedacht, im Guten voranzukommen. Lass dich zur Nachahmung begeistern, wenn du gute Beispiele siehst und hörst.
Wenn du aber etwas Tadelnswertes wahrnimmst, so hüte dich, Gleiches zu tun. Wenn du es aber einmal getan hast, so suche dich schnell zu bessern. Wie dein Auge andere betrachtet, so wirst du selbst von diesen beobachtet. Wie angenehm und erfreulich ist es, eifrige, fromme Brüder in heiliger Zucht und Ordnung zu sehen.
Wie traurig und bedrückend dagegen der Anblick solcher, die das Gesetz der Ordnung übertreten und das nicht üben, wozu sie berufen sind!
Wie schädlich ist es, die Pflichten des Berufes zu vernachlässigen und den Sinn auf Dinge zu richten, die uns nichts angehen!
Denke an den gefassten Entschluss und halte dir das Bild des Gekreuzigten vor Augen. Du hast Grund genug, dich beim Anblick Jesu zu schämen, weil du dich noch nicht ernstlicher bemüht hast, ihm ähnlich zu werden, obwohl du dich schon lange auf dem Wege zu Gott befindest.
Ein Ordensmann, der sich eifrig und voll Andacht mit dem hochheiligen Leben und Leiden des Herrn beschäftigt, wird darin alles in Fülle finden, was ihm nützlich und notwendig ist. Er hat es nicht nötig, außer Jesus etwas Besseres zu suchen. Wenn Jesus der Gekreuzigte in unser Herz käme, wie schnell würden wir zur Genüge belehrt sein!
Ein eifriger Ordensmann erträgt alles und nimmt gerne auf sich, was ihm befohlen wird. Ein nachlässiger und lauer Ordensmann dagegen hat Plage über Plage und fühlt sich von allen Seiten eingeengt, weil er im Herzen keinen Frieden hat, und äußeren Trost zu suchen ist ihm verwehrt.
Ein Ordensmann, der die Zucht abschüttelt, ist schwerem Falle ausgesetzt.
Wer ein weniger strenges, ungebundenes Leben sucht, wird immer in Unruhe bleiben, weil ihm bald dies, bald jenes missfällt.
Wie machen es denn so viele andere Ordensleute, die sich streng an die klösterliche Ordnung halten?
Sie gehen selten aus, leben abgeschieden, essen sehr einfach, kleiden sich schlicht, arbeiten viel, reden wenig, wachen lange, stehen früh auf, beten viel, halten häufig eine geistliche Lesung und bewahren sich in strenger Zucht.
Die Kartäuser, Zisterzienser und die Mönche und Nonnen verschiedener Orden erheben sich jede Nacht und singen das Lob Gottes.
Darum solltest du dich schämen, in seinem heiligen Dienste träge zu sein, während so viele Ordensleute Gott preisen.
Hätten wir doch nichts anderes zu tun, als den Herrn unsern Gott mit Herz und Mund zu preisen!
Wenn du doch niemals nötig hättest, zu essen, zu trinken, zu schlafen, sondern immer Gott loben und nur für das geistliche Studium leben könntest, du würdest viel glücklicher sein als jetzt, wo du manche leibliche Bedürfnisse befriedigen musst. Gäbe es doch keine solchen Bedürfnisse, sondern nur geistliche Bedürfnisse der Seele. Aber wie selten verkosten wir die Seligkeit, sie zu befriedigen!
Wenn der Mensch es dahin bringt, dass er von keinem Geschöpf Trost erwartet, dann fängt er erst an, Gott ganz zu verkosten, dann wird er auch mit allem, was kommt, ganz zufrieden sein.
Dann wird ihn nicht Großes mehr erfreuen, über Kleines wird er nicht traurig werden. Er überlässt sich voll Vertrauen in allem Gott, der ihm alles in allem ist, dem nichts zugrundegeht noch stirbt, dem alles lebt, auf dessen Wink alles unverzüglich gehorcht. Denke immer an das Ende und daran, dass die verlorene Zeit nicht wiederkehrt. Ohne Sorgfalt und Fleiß wirst du niemals Tugenden erlangen. Wenn du anfängst, lau zu werden, fängt dein Unglück an.
Wenn du dich aber eifrig an die Arbeit machst, wirst du großen Frieden finden. Die Gnade Gottes und die Liebe zur Tugend werden dich die Mühe weniger empfinden lassen.
Wer vor Eifer glüht, ist zu allem bereit.
Mehr Mühe macht es, den Sünden und Leidenschaften zu widerstehen, als schwere körperliche Arbeit zu verrichten.
Wer kleine Mängel nicht meidet, fällt nach und nach in größere. Du wirst dich am Abend jedes Mal freuen, wenn du den Tag nützlich zugebracht hast. Wache über dich selbst, treibe dich an, spreche dir Mut zu! Achte auf dich selbst, wie es auch immer mit anderen stehen mag.
Du wirst so weit vorankommen, als du dir selbst Gewalt antust.
(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 4, Okt. - Dez. 2015, S. 103-107, Axams)

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